Zur Sache: Entscheidungsquälerei

Manchmal fällt es mir schwer, eine Entscheidung zu treffen: Ist eine Werbeaktion superwitzig, treffend und brillant – oder hilflos, unausgegoren und ein wenig blöd. Und noch bevor ich mich entscheiden kann, ist die Sache schon wieder vergessen.

Kürzlich zum Beispiel liess sich das Londoner Boulevardblatt The Sun zu einer sehr platten Werbemassnahme hinreissen: Es kündigte an, Barbusige von Seite drei zu verbannen. Aktivisten feierten ihren Sieg über die Seite-3-Tradition, Fans der Nackten protestierten heftig gegen die Streichung. Wenige Tage später wogten auf Seite 3 wieder Brüste. Die billige Nummer erzeugte viel Aufmerksamkeit und wir wissen jetzt alle wieder, dass The Sun kein Blatt vor die Brust nimmt. Und, ist die Auflage gestiegen?

Ein wenig einfallsreicher war die Ankündigung eines neuen Romans des US-Amerikaners James Patterson. Der Autor gehört mit über 300 Millionen verkauften Büchern zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. Dennoch promotete er seinen neuen Roman «Private Vegas» mit viel Aufwand: 1000 Fans konnten sich das E-Book kostenlos herunterladen – allerdings zerstörte sich der Thriller binnen 24 Stunden selbst. Schnell lesen war also angesagt. Wer keine Lust auf Stress hatte, besorgte sich den Roman ganz entspannt im Buchhandel. Oder auch nicht. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass die Auseinandersetzung zwischen Roger Köppel und Roger Schawinski im Beleidigte-Prinzessinnen-Stil eigentlich dazu diente, die inspirationslos gewordene Streiterei wieder mehr ins Gespräch zu bringen. Wissen Sie noch genau, worum es bei dem Eklat ging? Wer war noch mal Andreas Thiel? «Roger gegen Roger» ist irgendwie vorbei.

Was lehrt uns all das? Wer heute nicht laut ist, geht unter. Aber wer lärmt, bleibt nicht automatisch über Wasser. Wir werden mit so vielen Angeboten und Optionen überschwemmt, von Statements und Meinungen ankrakeelt, dass wir nicht mehr wissen, wo uns der Kopf steht. Nichts ist unmöglich und alles geht, ich bin doch kein Löli – und das ist das Problem. Der Soziologe Peter Gross spricht von der Multioptionsgesellschaft, die dem Evangelium der persönlichen Entfaltung huldigt: Ich-AG, Selfie, Selbstbestimmung, Eigenverantwortung, alles dreht sich um uns selbst. Wir bekommen nicht mehr Kinder, wenn alle Gefühle stimmen, sondern terminieren die Geburt unserer Nachkommen, wenn sie uns in den Kram passt. Und vorher bestellen wir uns den Wunschpartner im Internet. Wir organisieren sogar unser eigenes Ableben, Stichwort Exit. Und dennoch sind wir völlig planlos.

Aus der geballten Vielfalt der Wahlmöglichkeiten hat sich geballte Orientierungslosigkeit entwickelt. Das gilt auch für Werbung und Medien. «Drum prüfe, wer sich ewig bindet» ist unmöglich geworden. Wer kann heute noch alle Optionen checken, bis etwas wirklich gut ist? Darum macht man irgendwas, Hauptsache neu, laut und «shary» – denn alle sollen ja davon erfahren. Höher, schneller, weiter? Vielleicht versuchen wir es mal mit klüger, langsamer, weicher.

Anne-Friederike Heinrich, Chefredaktorin
f.heinrich@werbewoche.ch

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