Das Seelenbild des Landes

Im Landesmuseum in Zürich flimmert bis Mitte Oktober eine bewegte Ausstellung über zehn Minikinos. Kurator Walter Keller hat in 300 Filmen nach möglichst vielsagenden Szenen aus dem Schweizer Alltag gesucht.

Spielfilme sind ein Ausdrucksmittel ihrer Zeit. Was war zu einer bestimmten Zeit gemeint mit «Schweiz»? Wie leben und denken die Schweizerinnen und Schweizer? Die Ausstellung «Grosses Kino» im Landesmuseum hat zu diesen Fragen die Antworten im Schweizer Spielfilm gesucht. Rund 300 Filme haben Walter Keller und sein Team analysiert. «Dabei ging es nicht um Filmkunst oder filmwissenschaftliche Kriterien. Uns interessierte die Frage: Könnte es in diesem Film nach Schweiz riechen?», erklärte der Kurator an der Vernissage. Von 900 Sequenzen der Duftmarke «Helvetia» haben es schliesslich 115 aus 111 Filmen in die finale Auswahl geschafft.

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Diese bewegten Momente von 1 bis 3 Minuten Kürze sind zu 10 neuen Themen-Streifen montiert worden. Als Schnittplan für diese Statements zum «Seelenbild des Landes» diente nicht die Chronologie, sondern eine kreative Assoziation. In den hinterfragenden Clips mischen sich Filme aus allen Epochen und Genres zu einem neuen Dialog. Dieser soll vom Publikum selbstredend wahrgenommen werden. In der Ausstellung, die zum Nachdenken anregen soll, wurde bewusst auf jeden Kommentar verzichtet. Einen Kurz-Kommentar gab Keller nur an der Vernissage: «Der alte Schweizer Film ist noch lange nicht bieder und heutige Farbfilme auch nicht automatisch kritisch.»

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Ausgegraben haben die Ausstellungsmacher ihre Puzzleteile der nationalen Seele «in verdankenswerter Weise» bei den Schweizer Filmverleihern sowie zu einem grossen Teil auch im Archiv des Schweizer Fernsehens. Nathalie Wappler, Abteilungsleiterin Kultur beim SRF, meinte bei ihrer Einführung, dass viele dieser Filme «dem Leben Geschichten entgegensetzen » und damit auch die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit ausloten. Die Schweiz zwischen Traum und Realität. Diese Trennung erlebten in mehreren Filmen auch Flüchtlinge. Auffallend, dass Werke aus diesem Genre offenbar zum Eindrücklichsten zählen, was die Schweizer Filmkünstler zu erzählen wissen. Das Flüchtlingsdrama «Die letzte Chance» von Leopold Lindtberg wurde 1946 mit dem Golden Globe geehrt sowie dem Hauptpreis in Cannes. «Das Boot ist voll» von Markus Imhoof war 1982 für den Oscar nominiert. «Die Reise der Hoffnung» von Xavier Koller hat 1991 einen solchen gewonnen. Diese drei Werke stützen im «Grossen Kino» das Gedächtnis der Schweiz. Andere betreiben auch geistige Landesverteidigung. Oder sie entlarven unsere Charakter in Komödien wie «Taxifahrer Bänz», «Uli der Knecht» oder «Les petites fugues» bis «Grounding». Die gezeigten Filme stammen aus der Zeit von 1920 bis in die Gegenwart. In den einzelnen Kinos sind sie nach 10 Themen geordnet.

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Kurator Walter Keller hat mit seinem Team über 300 Filme nach dem «Duft der Schweiz» durchforstet. Der heutige Du-Chefredaktor hat sich in der Kulturbranche als Scalo-Verleger, als Initiant des Winterthurer Fotomuseums sowie als Herausgeber verschiedener Bestseller wie «Dumm und dick» einen Namen gemacht.

Freiheit und Neutralität: Freiheit bedeutet, zwischen verschiedenen Möglichkeiten wählen und entscheiden zu können. Die Bürgerinnen und Bürger sollen an den Entscheidungen der Allgemeinheit teilnehmen. Demokratie gegen innen und bewaffnete Neutralität gegen aussen sollen die Freiheit sichern. Zur Verteidigung dieses Gutes ist jeder Schweizer zum Dienst in der Milizarmee verpflichtet.

Lebenszeit – Jahreszeit: Rituale des Lebens- und Jahreslaufs sind in Spielfilmen gern gesehen. Sie fördern das Gemeinschaftsgefühl eigenständiger Regionen und Gemeinden. Ereignisse des Lebens – Geburt, Taufe, Hochzeit, Volksfeste, Prozessionen, Tod – sind Anlässe, um das Gemeinwesen zu festigen oder sich von ihm abzugrenzen.

Ihr und wir: Die Schweiz ist während Jahrhunderten ein karges und armes Land. Dann erkennt sie die Chancen, die ihr die Berge, Täler und Seen bieten. Deren industrielle und touristische Nutzung wird mit steigender Mobilität möglich und trägt seitdem zum Wohlstand der Schweiz bei. Aber sind die Fremden, die das Land besuchen oder in ihm leben wollen, Glück oder Unglück für die Schweiz?

In Not: Abtreibung, Schwarzarbeit, Kindesmissbrauch, Hunger, Diebstahl, Vergewaltigung, Zerrüttung, Einsamkeit, Freitod: Spannung entsteht, wenn Menschen und ihre Liebsten in Not geraten. Aus eigener oder fremder Schuld. Macht und Geld sind beliebte Elemente von Filmdrehbüchern. Sie sind Leitmotive, welche aufrüttelnde Erzählungen von Bedrängnis und Streit antreiben. Liebe: Körperliche Lust und Begierde sind in Schweizer Spielfilmen ein eher rares Gut. Gewollt oder Zufall? Amors Pfeile schwirren rege durch die Lüfte, allerdings treffen sie selten die Richtigen. So wird nicht immer ganz freiwillig, ganz standesgemäss oder glücklich geliebt. Und nicht immer legal.

Generationen: Selten erzählen Filme Geschichten von intakten Familien. Stoff finden sie vielmehr in gefährdeten, tragischen oder unglücklichen Lebensumständen. Filme über Spannungen zwischen Eltern, Kindern und Verwandten – in ländlich-traditioneller oder städtisch-moderner Umgebung – suchen nach dem Gefühl des Zusammenhalts. Oder sie erzählen von der Kälte der heutigen Gesellschaft.

Arbeit – Aufbruch: Klassische Darstellungen industrieller Arbeit sind im Schweizer Spielfilm selten. Szenen bäuerlicher Arbeit auf dem Hof und Einblicke in den Büro-Alltag sind die Regel. Finanzplatz, Vieh- und Landwirtschaft scheinen als Filmstoff geeigneter. Der historische Wechsel in der Arbeitswelt erfolgt ohne Krisen der Modernisierung, wie sie etwa im englischen Film zu finden sind.

Glaube: Christliche Rituale wie Taufe, Vermählung und Beerdigung oder Tisch-, Abend- und Fürbittgebet sind in frühen Filmen im Leben der Menschen tief verwurzelt. Das Bezwingen der Bergwelt zur Nutzung für Wasser und Weide, zur Erschliessung der Gipfel für den Fremdenverkehr und zur Durchbohrung der Alpen erfordern waghalsige Bau- und Ingenieurskunst.

Herkunft – Mythos: Spielfilme tun sich schwer mit Komplexität. Sie brauchen Helden und Gegenspieler. Die Figur des Armbrustschützen Wilhelm Tell spielt im Schweizer Spielfilm eine wichtige Rolle. Wie er auf Befehl der Obrigkeit seinem Sohn den Apfel vom Kopf schiesst, wird zuerst voller Pathos und – in späteren Filmen – ironisch oder satirisch dargestellt. Gleiches widerfährt historischen Treueschwüren und Schlachten.

Natur – Kultur: Natur ist die einzige Ressource unseres Landes. Ihre existenzielle Bedeutung findet die Entsprechung in einer reichen Tradition bewegender Inszenierungen. Dem modernen Menschen dient die Natur als Gegenwelt zur «Stadt» und steht für Gesundheit, Freiheit und Ökologie – oder für Rückständigkeit. Zahlreich sind die Schilderungen zerstörerischer Naturkräfte: Felsstürze, Lawinen, Gletscherbrüche, Überschwemmungen.

Wer Lust hat, kann 29 Filme auch in der ganzen Länge in Parallelveranstaltungen noch einmal entdecken. Dazu gibt es im Landesmuseum auch einen DVD-Shop sowie ein Lunchkino.

Andreas Panzeri

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Der Eingang zur Ausstellung im Landesmuseum führt über einen Weg aus Popcorn unter Glas.
 

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