«Wer sich bewirbt, macht Werbung für sich selbst»

Lucas Zehnder ist Experte für Bewerbung, Job und Karriere. Know-How und Tipps vermittelt er auch in über 150 Youtube-Videos. Im Interview mit Werbewoche.ch sagt der Geschäftsführer von Lucas Training, wie Corona den Arbeitsmarkt verändert hat – und worauf man achten muss, wenn man jetzt oder in Zukunft auf Jobsuche geht.

Lucas Zehnder1200Werbewoche.ch: Herr Zehnder, die Corona-Pandemie wirkt sich auch auf den Stellenmarkt aus. Ist es überhaupt ratsam, sich jetzt beruflich neu zu orientieren?

Lucas Zehnder: Generell rate ich eher nicht dazu, jetzt den Job zu wechseln, denn es gibt derzeit einfach mehr Stellensuchende. Gemäss dem KOF-Beschäftigungsindikator der ETH sind es etwa 25 oder gar 30 Prozent mehr als im 2019, das ist eine massive Zunahme. Viele Unternehmen haben im Moment Einstellungsstopp oder bauen sogar Stellen ab. An die Regel, erst zu kündigen, wenn man einen neuen Arbeitsvertrag unterschrieben hat, sollte man sich im Moment unbedingt halten.

 

Und was gilt für diejenigen, die jetzt ihren Job gerade verloren haben – sollen sie gleich lossuchen oder damit besser etwas zuwarten, bis es wieder bessere Angebote gibt?

Das hängt natürlich von der individuellen Situation ab. Wer familiäre Verpflichtungen hat, muss natürlich schauen, dass gleich wieder etwas reinkommt. Für Jobsuchende mit entspannterer finanzieller Situation kann ein jetziger Jobverlust auch eine Chance sein, sich etwas Übersicht zu verschaffen und zu schauen, was man wann im Leben noch erreichen und verwirklichen will. Auf jeden Fall ist die Situation nicht einfacher geworden – wir haben mehr Stellensuchende und weniger Jobs.

Vorstellungsgespräche finden derzeit vermehrt online statt, über Skype und Zoom. Ist das nur eine unbefriedigende Ersatzlösung oder bringt das sogar Vorteile?

Die Online-Jobinterviews gab es ja auch schon vor Corona, aber jetzt sind sie definitiv «State of the Art». Grundsätzlich ist das gut, weil so Zeit und Ressourcen gespart werden. Das ist praktisch und angenehm, aber es fehlt natürlich die persönliche Begegnung, die Chemie und die Körpersprache – alle diese psychologischen Faktoren bleiben dabei auf der Strecke und können mittels Video nicht hundertprozentig ersetzt werden. Auch wenn wir die Corona-Massnahmen mal aus dem Spiel lassen, würde ich ein erstes Gespräch immer noch per Video führen – aber nur kurz, etwa eine halbe Stunde lang und auf eher informeller Ebene. Einfach, um sich kennenzulernen – und um die drei wichtigsten Fragen schon mal vorab zu klären. So erhält man einen ersten Eindruck und kann dann ein persönliches Treffen darauf folgen lassen.

 

Es gibt auch Stellensuchende, die von sich aus Bewerbungsvideos aufzeichnen. Ist das sinnvoll?

Da habe ich gemischte Gefühle. Solche Videos sind eher selten, und von jenen, die ich erhalten haben, waren etwa die Hälfte gut und die andere weniger vorteilhaft. Es muss typkonform sein und muss zu einem passen – und auch zur Firma, bei der man sich bewirbt. Für eher introvertierte Jobsuchende sind Bewerbungsvideos weniger zu empfehlen.

Die Digitalisierung ist in aller Munde. Fast alle Jobs sind davon betroffen, ständig gibt es neue Tools, Programme und Plattformen. Lohnt es sich auch für Stellensuchende, die schon vier bis fünf Jahre vor dem Pensionsalter stehen, immer noch alles mitzumachen und dazuzulernen?

Sich dem zu verweigern wäre auch für reifere Arbeitskräfte sehr riskant, denn vier bis fünf Jahre sind im Arbeitsmarkt heute einfach nicht mehr dasselbe wie in den Neunzigerjahren. Das Tempo der Veränderungen ist rasant, und der technische Fortschritt wird es weiter beschleunigen. Ich appelliere an eine positive, offene Grundhaltung. Es lohnt sich also, auch mit über 60 noch offen auf neue Tools und Instrumente zuzugehen, und zu schauen, was einem daran gefallen könnte und einem Spass bereiten würde.

 

Ist es nach wie vor so, dass man schon mit 50 Jahren markant weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat als mit 30?

Ja, wir haben einen Jugendwahn. Der ist strukturellen Bedingungen geschuldet, jüngere Mitarbeitende kosten weniger, viele Unternehmen tun sich schon schwer, Arbeitskräfte einzustellen, die älter als 40 sind. Aber es gibt auch Gegenströmungen. Wenn wir kategorisch alle über 50 als alt klassifizieren, würde dies zu einem volkswirtschaftlichen Fiasko führen – es wäre dumm, einen Viertel aller Arbeitskräfte zu diskriminieren. Zudem gibt es in dieser Altersgruppe unglaublich erfahrene Leute und erstklassige Experten, auf die man nicht verzichten sollte. Ausserdem fallen diese auch nicht unbedingt häufiger aus. Jüngere Menschen haben viel öfter Kopfweh und andere Wehwehchen, behaupte ich einfach mal.

Gibt es Trends, die man – unabhängig davon, in welcher Branche man arbeitet – heute unbedingt mitverfolgen sollte, wie etwa Artificial Intelligence?

Nein, nicht jeder muss ja unbedingt Data Scientist und Digitalisierungsexperte werden. Das sind hochkomplexe Jobs, die eine entsprechende Ausbildung und Erfahrung erfordern. Hingegen sollte man sich auf das konzentrieren, was man gut kann. Also nicht unbedingt seiner Passion folgen, sondern das tun, was man gut kann – auch dies wird dann mit der Zeit ganz von alleine zur Passion. Dennoch sollte man sich neuen Entwicklungen wie Künstliche Intelligenz nicht verschliessen, sondern diese umarmen und erkunden, was an diesen Entwicklungen für einen selbst spannend sein könnte.

 

In welchen Branchen sehen Sie die grössten Zukunftschancen?

Alles, was mit Technologie zu tun hat. Also IT und die MINT-Bereiche. Da brauchen wir vor allem für die Mädchen weibliche Vorbilder. Zukunft hat auch alles, was man nicht so einfach automatisieren kann, wie Psychologie – und die Kombination von beidem, Psychologie und Technologie.

 

Ihre Prognose, was passiert nach dem Lockdown im Stellenmarkt?

Einiges wird bleiben, wie die Online-Bewerbungen. Als im letzten Sommer die Massnahmen kurz gelockert wurden, hat sich der Stellenmarkt sofort erholt.

 

Dieses Jahr feierten wir 50 Jahre Frauenstimmrecht. Ist in Sachen Gleichberechtigung aber immer noch Luft nach oben?

Ich denke, da sind die richtigen Prozesse im Gang. Wie ich schon sagte, braucht es für junge Mädchen Heldinnen und Vorbilder, spannende Wissenschaftlerinnen, erfolgreiche Unternehmerinnen und weibliche CEOs. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, in der es ganz selbstverständlich ist, dass auch Mädchen einen technisch-naturwissenschaftlichen Weg einschlagen. In dieser Hinsicht passiert in unserer Gesellschaft im Moment ja sehr viel – wir brauchen einfach die fähigsten Leute an den richtigen Orten, gender-unabhängig.

 

Sehr beliebt sind auch Ihre Videos, mit denen Sie online Bewerbungsratschläge geben. Ist das ein wirksames Akquise-Instrument?

Natürlich ist das Werbung für mich, aber die Videos sind für mich auch so etwas wie ein persönliches Tagebuch. Sie helfen mir, gewisse Themen zu reflektieren. Und ich gebe auch gerne mein Wissen weiter – oft sind es bewusst Sachen, die nicht jeder weiss oder kennt.

 

Was machen – oder raten – Sie denn anders als die anderen?

Beim Bewerbungsschreiben zum Beispiel finden Sie im Internet auf lucastraining.ch meinen ganz eigenen Leitfaden, der schon vielen zu einem Job verholfen hat. Er umschliesst die «3-Absatz-5-Satz-Regel», aber schauen Sie selbst nach. Sie werden es nicht bereuen.

 

Als Karrierecoach checken und optimieren auch die Lebensläufe ihrer Kundinnen und Kunden. Worauf kommt es heutzutage an?

In den Neunzigern hat man noch eine ganze Historie ausgebreitet und alles erwähnt, was man mal gemacht hat, inklusive den Sprachaufenthalt in San Diego vor 20 Jahren. Heute ist das vorbei. Wer sich bewirbt, der macht für sich Werbung. Es gibt eine Zielgruppe, und das ist die Firma. Und man selbst ist das Produkt mit seinem Humankapital. Man muss also deutlich machen, dass man die oder derjenige ist, der gesucht wird und konkret dazu fähig ist, die Probleme X, Y und Z zu lösen. Alles, was dies unterstützt, sollte im Lebenslauf stehen – zudem sollte man ihn aber auch so verfassen, dass es keine unerklärlichen mehrjährigen Lücken darin gibt. Ein Lebenslauf darf keinen unnötigen Verdacht aufkommen lassen.

 

Weitere Tipps findet man in Ihren über 150 Videos. Ist es eigentlich geschickt, das eigene Wissen so frank und frei weiter zu geben?

Wer sich von mir persönlich beraten lässt, erhält meine Erfahrung personalisiert im Eins zu Eins. Das bringt einen riesigen Mehrwert, den man nicht in 200 oder mehr Videos vermitteln könnte.

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