Zur Sache: Sommertheater 2

Seit Patrik Müller am Sonntag vor einer Woche die Geri-Müller-Sex-Selfies zumindest verbal in die Zeitung Schweiz am Sonntag brachte, verging kein Tag, wo nicht irgendwo in der Schweiz, aber auch im Ausland über die Affäre berichtet wurde.

Die von Müller immer wieder erwähnten moralischen Aspekte (während der Arbeitszeit, im Büro, aus dem Nationalratssaal) führten dazu, dass sehr (allzu?) rasch nicht mehr gross darüber diskutiert wurde, ob die Publikation der Geschichte rechtens war oder nicht.

Der übliche mediale Hype brach aus. Es war ja auch alles vorhanden: älterer Polit-Promi, viel jüngere Frau, Sex. Die Medien übertrumpften sich gegenseitig mit neuen Erkenntnissen – oft waren diese zwar nur abgeschrieben und leicht umformuliert. Es gab aber auch neue Erkenntnisse: zumindest Blick, SonntagsZeitung und Weltwoche – so hiess es – hatten die Geschichte schon lange, brachten sie aber nicht. Das Alter der Chatpartnerin wurde von 21 auf 33 geändert, weil die SDA da scheinbar was durcheinanderbrachte. Mit der Chatpartnerin wurde auch gesprochen, sie wurde ausführlich zitiert. Es gab Hinweise, dass sie suizidgefährdet sei, und die Polizei schritt auf entsprechende Telefonate von Geri Müller ein und befragte die Dame. Politiker und Meinungsführer waren betroffen und erstaunt, Medienkritiker äusserten sich, Psychologen versuchten zu erklären. Das SRF brachte schon nach zwei Tagen einen Mediaclub und in den sozialen Medien ging die Post ab. Geri Müller trat mit seinem Anwalt an einer Pressekonferenz auf, an der keine Fragen gestellt werden durften.

Die ganze Sache entwickelte sich zum medialen Tsunami, den niemand mehr kontrollieren konnte. Mittlerweile weist Google News unter dem Stichwort Geri-Selfies mehr als 38 000 Hits aus, die Schweizerische Mediendatenbank immerhin deren 135.

Eine der üblichen Mediaempörungsgeschichten also? Das hätte man lange meinen können. Aber dabei bleibt es nicht, sie geht weiter. Als Geri Müller versuchte, Josef Bollag, den Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde Baden, in die Sache hineinzuziehen, erhielt alles noch eine weitere Dimension. Eine politische. Es zeigt sich, dass doch einige bekannte Politiker mehr oder weniger im Detail die Geschichte kannten. Als dann noch Sacha Wigdorovits, Ex-Journalist, heute Besitzer einer Kommunikationsagentur, erklärter Israel-Freund und deswegen auch Geri-Müller-Feind im Umfeld der Geschichte auftauchte, da lief diese vollends aus dem Ruder. Das Reizwort Jude öffnete die Schleusen. Auf sozialen Netzwerken wurden unter voller Namensnennung antisemitische Aussagen veröffentlicht, die klar gegen das Strafrecht verstossen. Die ersten Anklagen laufen schon.

Die Qualitätsdiskussion muss weitergehen. Sexbildli sind harmlos – Antisemitismus nicht. Instrumentalisierung und Spin-Doctors müssen zum Thema werden.

Pierre C. Meier, Chefredaktor

pc.meier@werbewoche.ch
 

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