Zur Sache: Beisshemmung

Das Schweizer Volk raucht, es ist zu dick, säuft zu viel, konsumiert Lebensmittel, die zu viel Zucker und gefährliche Transfette aufweisen. Es fährt zu schwere Autos – Offroader gar mit aggressiven Frontpartien –, die zu viel Sprit verbrauchen und der Umwelt schaden.

Das Schweizer Volk raucht, es ist zu dick, säuft zu viel, konsumiert Lebensmittel, die zu viel Zucker und gefährliche Transfette aufweisen. Es fährt zu schwere Autos – Offroader gar mit aggressiven Frontpartien –, die zu viel Sprit verbrauchen und der Umwelt schaden.
Unsere Gesellschaft ist immer stärker geprägt von einem abstrusen Sicherheitsbedürfnis. Alles soll geregelt werden. Der Staat soll es richten. Der Staat soll verantwortlich sein für die physische und psychische Unversehrtheit der tumben Masse, genannt Bevölkerung. Alles, was ungesund oder potenziell gefährlich ist, gehört eingeschränkt oder verboten. Immer mehr Werbeverbote drohen. Die Bestimmungen, was und in welcher Form in der Werbung gesagt werden kann, werden in Zukunft immer rigider werden.
Moralapostel und profilierungssüchtige Politiker bilden eine unheilige Allianz, um die Bevölkerung vor ihrem Verhalten zu schützen. Eigenverantwortung ist kein Thema, die Leute müssen zu ihrem Glück gezwungen werden.
Dass das kein spezifisch schweizerisches Problem ist, zeigt der neuste Vorstoss des EU-Parlaments. Dieses hat diese Woche entschieden, dass Werbung, die Geschlechterklischees zementiert, diskriminierend und sexistisch ist und deshalb zu verbieten sei.
Weitere Werbeverbote oder -Einschränkungen werden auf uns zukommen. Denn irgendein Depp, der sich damit profilieren will, findet sich allemal dazu. Sei es in Brüssel oder in Bern.
Medien leben oder überleben wegen der Werbung. Das gilt nicht nur für die sich im Aufwind befindende Gratispresse, sondern auch für die bezahlte Presse. Ein Zeitungsabonnement, das die fehlenden Werbeeinnahmen kompensieren müsste, würde x-mal teurer sein als heute. Das ist eine Tatsache. Die Freiheit für die Werbung sollte also eigentlich das höchste Ziel der Verleger sein.
In jeder anderen Branche würde gekämpft. Man würde scharfe Protestnoten verfassen. Man würde versuchen, die drohende Gefahr zu bekämpfen. Doch was macht die Medienbranche? Nichts. Im Gegenteil. Anstatt, dass sie klar und kompromisslos gegen die aktuellen und zukünftigen Werbeverbote ankämpft, geht sie auf Tauchstation. Wo bleiben die flammenden Artikel für die Wirtschafts- und Werbefreiheit?
Eine der wichtigsten Aufgaben der Presse ist es, Missstände aufzuzeigen. Das tut sie auch in sehr vielen Fällen. Man analysiert politische Entscheidungen und klopft den Politikern auf die Finger. Nur in diesem Bereich der Werbeverbote und -Einschränkungen befällt die Medien eine unerklärliche Beisshemmung. Wie wenn man sich schämen würde, für etwas einzustehen, das die eigene Existenz sichert. Es gibt wahrscheinlich keine Branche, die so blöd ist, den Ast nicht zu stützen, der ihr das Überleben ermöglicht.
Pierre C. Meier, Chefredaktor
pc.meier@werbewoche.ch

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