Ein tränenblinder Blick

Oliver Classen über Ringiers peinliche Diskriminierung der Gratiszeitungen.

Oliver Classen über Ringiers peinliche Diskriminierung der Gratiszeitungen.Dass man nur jenen Statistiken glauben sollte, die man selber gefälscht hat, gehört mittlerweile zu den Binsenweisheiten des Verlagsgeschäfts. Auch die willkürliche Definition von Marktsegmenten, in der das eigene Flaggschiff zufällig die Spitzenposition besetzt, gehört nicht erst seit gestern zum Kriegshandwerk im Zeitungsmarketing.Die jüngste Behauptung von Bernhard Weissberg im hauseigenen Sonntagsblatt, der Blick sei trotz 20 Minuten weiterhin nicht nur «die stärkste», sondern auch die reichweitenstärkste Zeitung der Schweiz, schlägt diesem Fass aber den Boden aus. Hier die edlen Kauf-, dort die niederen Gratiszeitungen: Mit seinem tragikomischen Versuch, die (von der Realität) längst überholte Zweiklassengesellschaft im Pressewesen zu reanimieren, reisst Ringiers Zeitungschef nämlich just jenen Graben wieder auf, den der Verband Schweizer Presse gerade versucht zuzuschütten (WW 31/04). Und schadet damit der gesamten Branche.
Wir erinnern uns: Erst ein Jahr ist es her, seit der damals frisch gebackene Verbandspräsident 20 Minuten im Blick (!) zur «reinen Modeerscheinung» degradierte. Unterdessen ist es Hanspeter Lebrument und seinem Vorstand glücklicherweise gedämmert, dass eine Eingemeindung des früheren Erzfeinds für die Gattung ungleich nützlicher ist als dessen Verteuflung.
Weshalb der Verband den vor lauter Trauertränen offenbar faktenblind gewordenen Blick schnell zur Räson bringen sollte. Dies auch, weil Ringier der gesamten Konkurrenz und damit letztlich auch der Wemf «Desinformation» vorwirft. Bleibt die Frage, wem die Verschwörungstheoretiker von der Dufourstrasse noch trauen, wenn nicht mal mehr der neutralen Reichweitenmesserin und deren Pressetypologie. Scheinbar nur mehr ihren eigenen niederen Marketinginstinkten. Der Arterhaltung erweisen die edlen Boulevardwilden damit einen Bärendienst.
Mal sehen, ob Lebrument am Verlegerkongress Courage zeigt und in dieser Sache ein deutliches, klärendes Wort spricht – wenn nicht öffentlich, dann wenigstens mit Michael Ringier.
> Oliver Classen, Editor

More articles on the topic