Medienmarken, das Publikum und ein «Hate-Slam»

Die Beleidigungen, Attacken und Gemeinheiten aus dem meist anonymen «Untergrund» der Onlinekommentarspalten wurden an einer Veranstaltung publik gemacht. Von Stephan Russ-Mohl

Wie lassen sich Medienmarken führen? An der Universität Zürich hat dieser Tage eine internationale und interdisziplinär zusammengesetzte Forschergruppe sich über das Media-Branding die Köpfe heiss geredet. Die Medienökonomin Gabriele Siegert hatte zu der Tagung eingeladen, um vor allem der Frage nachzuspüren, welchen Einfluss die Markenführung auf die journalistische Qualität hat – und vice versa. Einer der spannendsten Aspekte war dabei, welche Rolle das Publikum beim «Branding» spielt.

Dazu hat zeitgleich in Bayreuth die dortige Regionalzeitung, der Nordbayerische Kurier, ein ebenso mutiges wie spannendes Experiment veranstaltet, das im deutschen Sprachraum unter Fachleuten einige Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hat: Das Blatt hat einen «Hate-Slam» veranstaltet und öffentlich kommuniziert, mit welchen Beleidigungen, Attacken und Gemeinheiten aus dem meist anonymen «Untergrund» sich die Redakteure in den Onlinekommentarspalten tagtäglich auseinandersetzen müssen.

Dazu hat die Redaktion über ein Jahr hinweg Leserrückmeldungen gesammelt und davon «the worst of» zum Besten gegeben – in einer öffentlichen Veranstaltung, die einen Saal mit über 400 Personen gefüllt hat. Mit dieser Offensive wurde so endlich einmal auch für ein breiteres Publikum transparent, was auch anderswo Redaktionen viel Zeit kostet, Kopfzerbrechen bereitet und sicherlich auch demoti viert: dass es eine kleine, aber oftmals lautstarke Minderheit gibt, die im Netz einfach wild losrüpelt, Fäkalsprache kultiviert und keinerlei Spielregeln des zwischenmenschlichen Umgangs mehr kennt – was die Redaktionen dazu zwingt, mit viel Aufwand ihre Onlinekommentarspalten zu moderieren.

Ohne Risiken und Nebenwirkungen ist Transparenz, wie sie der Nordbayerische Kurier hergestellt hat, und wohl auch das erstrebte Gemeinschaftsgefühl zwischen Redaktion und der grossen Mehrheit der Leserschaft freilich nicht zu haben. Zwar scheinen die Leserinnen und Leser, die in Bayreuth öffentlich «vorgeführt» und an den Pranger gestellt wurden, bisher keine Abos abbestellt zu haben. Einer von ihnen, der seinen eigenen Leserkommentar während des Hate-Slams wiedererkannt hat, hat sogar humorvoll reagiert, berichtet Chefredakteur Joachim Braun. Die Aktion habe «viele Sympathien gebracht, auch bei Leuten, die nicht (mehr oder noch nicht) zeitungsaffin sind. Der überwiegende Tenor: «Schön, dass sich die Journalisten selbst nicht so ernst nehmen.»

Auch auf der internationalen Konferenz in Zürich waren die Reaktionen eher wohlwollend. Drei Kostproben: Kati Förster und Klaus Schönbach (beide Universität Wien) meinten, mit der Initiative lasse sich die Leserbindung verstärken («community building») und Glaubwürdigkeit zurückgewinnen («it does wonders for credibility»). Schönbach erwartet auch einen «Impf-Effekt» – mögliche Kritik von aussen wird von der Zeitung selbst schon vorweggenommen und läuft damit vielleicht ins Leere. Und Lisa-Charlotte Wolter (Hamburg Media School) fügte hinzu: «Schon dass wir hier darüber sprechen, ist ein Erfolgsindiz.»

Trotzdem ist das Publikum, sind die eigenen Leserinnen und Leser natürlich ein Teil des medialen Brandings. Helmut Scherer (Hochschule für Musik, Theater und Medien, Hannover) hat daran erinnert, dass kluge Marketing-Strategen von Medienunternehmen seit Jahrzehnten versuchen, sich mit ihren Leserinnen und Lesern in ihren Image- und Werbekampagnen zu schmücken. Der vielfach preisgekrönte Slogan der Frankfurter Allgemeinen Zeitung «Dahinter steckt immer ein kluger Kopf» ist dafür im deutschsprachigen Raum das wohl bekannteste Beispiel.

Dieser Slogan würde nach einem Hate-Slam, wie ihn der Nordbayerische Kurier aufgeführt hat, nicht mehr funktionieren. Auch wenn sich das Regionalblatt nicht mit der F.A.Z. vergleichen lässt: Vermutlich möchte auch in Bayreuth nicht jeder Zeitungsleser einer Community zugerechnet werden, in der Einzelne einfach die Sau rauslassen und alle Regeln des Anstands missachten.

So fällt es abschliessend nicht ganz leicht, Redaktionen zur Nachahmung aufzufordern. Der Journalismusbeobachter in mir freut sich über den Zugewinn an Transparenz, während aus der Sicht des Marketings und der Markenführung das Risiko hoch einzuschätzen ist, dass zu viel Offenheit negativ auf die Medienmarke zurückwirken könnte.

Stephan Russ-Mohl leitet das Europäische Journalismus-Observatorium an der Universität Lugano.
 

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