Menschen kaufen keine Produkte mehr

Bin ich die Person, die diese Jeans trägt? Dieses Auto fährt? Diese m&k liest? Wer das Selfication-Prinzip von Sir Mary versteht, denkt Marken-Kommunikation neu. Ein Gastbeitrag von Andi Portmann, Creative Director bei Sir Mary.

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Illustrationen: Thomas Berger

 

Sie halten die m&k mit einem Stinkefinger auf dem Cover in Ihren Händen. Wie fühlt sich das an? Wenn andere Tram- Passagiere Sie damit sehen? Sie das Heft zu Hause aufs Sofa legen? Ihre Arbeitskolleginnen es von Ihrem Pult nehmen und durchblättern? Ist Ihnen das peinlich? Oder offenbart es den Punk in Ihrer Seele? Sind Sie jemand, der solche Provokation armselig findet? Oder ein Mensch, der damit seine intellektuelle Neugier zeigt? Beobachten Sie sich bei der Lektüre selber: Hier geht es um einen Paradigmenwechsel, den Sie nicht im Kopf verstehen, sondern intuitiv erleben sollen. Als das, was Sie sind: ein Mensch.

 

Interruption 1: Menschen kaufen keine Produkte mehr

Sie sind Zeitzeuge einer Revolution. Unser Leben bekommt eine immer allumfassender und stärker werdende, neue Dimension – das Digitale. Sie verändert nicht nur unser Wissen, sondern, wie wir die Welt erleben, mit anderen Menschen umgehen und schliesslich auch, wer wir sind.

Denken Sie anders: Es ist nicht so, dass das Internet bloss ein neuer  Kommunikationskanal wäre. Das Digitale entfaltet seine revolutionäre Kraft, indem es wie ein alles durchdringender Organismus wächst, gesteuert aus unzähligen menschlichen Bedürfnissen und selbst lernenden Algorithmen. So verändert es nicht bloss die Kommunikation, sondern das ganze Leben.

Die neuen Gesetze betreffen keine einzelnen Touchpoints, sondern das Menschsein. Das Digitale erlaubt Menschen, sich zusammenzuschliessen, sich auszutauschen, zu handeln, wie es noch nie vorher möglich war. Das hat Studenten zu Meinungsführern gemacht, die den Arabischen Frühling starten. Oder Teenager zu E-Sports-Millionären. Oder TikToker zu Aktivisten, die den USPräsidenten blossstellen. Oder jeden einzelnen Reisenden zum potenziell weltweit wahrgenommenen Hotelkritiker. Heute ist jede und jeder von uns in der Lage, von der Welt gesehen zu werden. Und in der Folge geht es für uns so sehr wie nie zuvor darum, wer wir selber sein wollen. Das Bild, das wir anderen von uns selbst zeigen wollen, wird zum Kompass unserer Identität, on- wie offline: Was fühlt sich nach mir an? Was nicht? Kaufentscheide nutzen wir, um unsere Identität zu kuratieren: Bin ich die Person, die dieses Cap trägt? Dieses Smartphone nutzt? Diese Reise bucht? Das heisst: Wir kaufen keine Produkte mehr, sondern Statements darüber, wer wir selber sein wollen. Hinweise dafür finden Sie nicht nur, wenn Sie aufmerksam auf der Strasse unterwegs sind, durch Social Media navigieren oder sich selbst beim Kaufen beobachten – die Beispiele sind überall.

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Das ist kein Energy-Drink

Noch nie etwa hat ein Getränk in einer Go-to-Market-Studie geschmacklich so fundamental versagt wie Red Bull. Doch das mutige Image, das sich mit der unverkennbaren Dose in der Hand auf uns selbst überträgt und wir damit als Statement über unsere eigene Identität andern gegenüber abgeben, wirkt stärker: Menschen auf der ganzen Welt wollen als jene wahrgenommen werden, die Flügel haben.

 

Das ist kein Firmenlogo

Naomi Klein zitiert in ihrem Buch «No Logo» den Internet-Unternehmer Carmine Collettion, der sich ein Nike-Logo hat tätowieren lassen: «I wake up every morning, jump into the shower, look down at the symbol, and that pumps me up for the day. It’s to remind me every day what I have to do, which is Just do it.» Collettion hat sich nicht wegen Nike tätowiert, sondern weil er sich und der Welt zeigen will, dass er jemand ist, der die Dinge anpackt. Wie alle Menschen, die mit Nike-Produkten herumlaufen.

 

Das ist kein Auto

Eine Studie zeigt, dass 2009 nahezu die Hälfte aller verkauften Hybridautos in den USA «Toyota Prius» waren und dass sein Erfolg mit dem unbeholfen wirkenden Design zusammenhängt.  Denn dieses macht den Prius zum Statement. Andere Hybridautos (auch von Toyota selbst, wie etwa der Camry Hybrid oder der Civic Hybrid) unterscheiden sich von konventionellen Autos lediglich durch die Technologie unter der Motorhaube. Doch der Prius sagt deutlich sichtbar: Schaut her, mein Besitzer fährt umweltbewusst Auto. Ergo ist der Prius- Anteil unter den Hybridautos auch dort  überproportional, wo das Öko-Statement verstanden wird. In Gebieten, wo viele Menschen mit umweltbewusster Haltung leben.

 

Das sind keine Trinkgläser

Im Roman «Liebesleben» des Philosophen Alain de Botton streitet ein Paar bei Ikea, also am Point of Sale: Sie will die Gläser «Fabulös», er die Gläser «Godis » kaufen. «Die ganze Fahrt nach Hause starren sie ohne ein Wort aus dem Fenster, die Stille im Wagen wird nur gelegentlich von dem Klicken des Blinkers unterbrochen.» Beide sind enttäuscht, dass sie sich wegen solch vermeintlicher Banalitäten in die Haare geraten, doch eigentlich haben sie nicht über Gläser, sondern über ihre Identität gestritten: Beide haben gekämpft, um voneinander als das gesehen zu werden, was sie als Menschen ausmacht.

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Interruption 2: Menschen agieren nicht mehr wie Konsumenten

Ach, Sie lesen den ganzen Artikel? Vielen Dank, schliesslich könnten Sie auch etwas anderes tun: In den verbleibenden drei Minuten Lesezeit streamen User auf Netflix 1 200 000 Stunden Filme, posten auf Instagram 1 000 000 Stories, laden 1500 Stunden Video auf Youtube oder sharen 120 000 000 Whatsapp-Messages. Wir mutieren zu Multitaskerinnen, Smartphone-Zombies, Ritalin-Schluckern. Und Taktgeber ist der Informations-Overkill des Digitalen. Internet-Legende Douglas Rushkoff sagt: «Ich rate den Konsumenten, jede Medientechnologie als Droge zu sehen.»

Unsere Reaktion? Wir blocken alles, was nicht zu unserem Selbstbild passt. Was wir Menschen seit jeher beherrschen – ein Beispiel aus den 70er-Jahren: Die Medienforscher Bonfadelli und Hättenschwiler untersuchten, wie Befürworter und Gegner des Vietnamkriegs die Berichterstattung des Zürcher «Tages-Anzeiger» wahrnehmen. Wer persönlich das Engagement der USA in Vietnam unterstützte, nahm die Berichterstattung als pro-amerikanisch wahr. Wem das US-Engagement missfiel, nahm die Berichterstattung als anti-amerikanisch wahr. Obwohl alle dieselbe Zeitung gelesen hatten. Heisst: Aufmerksamkeit bekommt das, wozu wir eine identitätsstiftende Beziehung haben. Und in der vernetzten Welt wirken für und dagegen so extrem wie noch nie. Mental überfordert uns nicht der Entscheid für die Sneakers, die wir kaufen wollen, sondern der Entscheid gegen die Tausenden Sneakers, die wir nicht kaufen können. Die Tausenden Stories, die wir uns nicht ansehen können. Die Tausenden Singles, die wir nicht daten können. Per Swipe News, Games, Pics, Stories, Trends, Ads, Trash, aber auch Menschen wegzuwischen ist nicht bloss ein Akt, sondern Metapher unserer Zeit.

Nur noch der minimale Bruchteil an Input – nämlich das, was sich nach dem anfühlt, was wir selbst sein wollen – durchdringt unsere mentale Firewall. Und das wird zur Herausforderung für die Kommunikation: Denn unser Selbstbild kreieren wir nicht erst, wenn wir im Konsummodus sind und Brands üblicherweise versuchen, uns zu erreichen. Sondern in unserem ganz normalen Leben. Ja, sogar im Schlaf, wie psychologische Studien nahe legen.

Fazit: Der übliche Brand von heute versteht sich bereits als up to date, wenn er alle Kanäle bespielt, vernetzt und mit datenbasierten Massnahmen optimiert. Derjenige der Zukunft bewegt unsere Welt, indem er Relevanz für unser Selbstbild als Menschen aufbaut. Er wird zu unserem Alltag gehören wie Hunde, Liebeskummer, Peer-Groups, Zebrastreifen, Gaming, ein blauer Himmel, Tratsch und Politik. Denn niemand und nichts wird uns noch als Konsumenten erreichen, sondern nur noch als das, was wir alle sind: Menschen. Wie wir die digitale Wirklichkeit kreieren, so kreiert sie uns. Mit der Konsequenz, dass sich Erfolg in der Marktwirtschaft daran entscheiden wird, wem wir Zugang zu unseren Lebenswelten erlauben – und wen wir blocken. Denn wir wollen Brands, Dinge, Aktionen, Dienste, Formate, Start-ups oder Erlebnisse, die uns  ermächtigen, der Welt zu zeigen, was uns ausmacht. Und an dieser multidisziplinären Schnittstelle agiert die Marken-Kommunikation der Zukunft.

Der Paradigmenwechsel nach dem Selfication-Prinzip

Krux

Das Prinzip erklärt, wieso wir Menschen nicht mehr wie die Konsumenten von früher agieren.

Journey

Das Prinzip liefert Antworten von Markenpositionierung bis zu datengetriebenem Hard Selling.

Zukunft

Das Prinzip definiert die fundamentale Frage der modernen Marktwirtschaft: Me or Not Me?

Brand Experience Consulting: Das Selfication-Prinzip von Sir Mary

Me or Not Me? Marken kommunizieren nur noch mit uns Menschen, wenn sie in unserem Leben relevant sind. Was bedeutet das für Ihr Unternehmen? Sir Mary war bereits Schweizer Digital-Agentur des Jahres, Newcomer-Agentur im DACH-Raum, arbeitet für Brands wie Allianz, CSS, NZZ, Samsung, UBS oder Polestar und ist gerade mal vier Jahre jung. Nun teilt Sir Mary das eigene Erfolgsdenken: mit dem Selfication-Prinzip. Auf dieser Grundlage erarbeiten Sie im Team die strategische Basis für Ihre Kommunikation. Von der  Markenpositionierung über die gesamte Customer-Journey bis zumdatengetriebenen Hard Selling.

Mehr Infos gibt es bei Daniel Zuberbühler, Founder und Client Service Director bei Sir Mary. daniel@sirmary.com

 

Dieser Artikel erschien zuerst in der m&k 10/2020.

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* Andi Portmann ist Creative Director bei Sir Mary.

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