… und Exzess wird Stille

Wenige verstehen die internationale Luxusbranche so gut wie Tom Junkersdorf. Der langjährige GQ-Chefredaktor sagt: Die aktuelle Krise ändert alles. Ein Essay.

tjluxus

Tom Junkersdorf ist einer der profiliertesten Experten für Luxus und Lifestyle im deutschsprachigen Raum. Der Ex-Chefredaktor von GQ gründete im März 2020 die Agentur Off-ScriptT, eine Agentur, die hochkarätigen Brands und Individuen massgeschneiderte PR- und Marketing-Services anbietet. In der Juni/Juli-Ausgabe von m&k schrieb Junkersdorf ein exklusives Essay.

In seinem Podcast «Tomorrow» spricht Junkersdorf mit Stars, CEOs, Designern und Disruptor der berühmtesten Luxusmarken der Welt über ihr aussergewöhnliches Leben. Wie sich ihr Business verändert, was Style heute ausmacht und darüber, was Luxus wirklich bedeutet. 


Denken Sie sich schon mal einen neuen Begriff. Sie werden damit bei der nächsten Dinnerparty, insofern die denn wieder erlaubt sind, herrlich punkten können. Das Buzzword heisst: «Quiet Luxury». Ruhiger Luxus, stillerer Luxus.

Eine neue Normalität

Nein, es wird kein «back to normal» geben. Was wir erleben, ist ein «new normal». Covid-19 hat die tektonischen Platten unseres Lebens für immer verschoben. Die Luxury-Brands mit ihrem tief verankerten Feingefühl für Trends spüren das natürlich und drehen den Sound vorsorglich herunter. Auf Instagram, dem Fieberthermometer der Branche, ist das präzise abzulesen. Wo nicht mehr hemmungslos gereist und ohne Atemmaske geshoppt werden kann, lässt sich der Luxury-Lifestyle auch nicht mehr exzessiv teilen. Influencer versuchen verzweifelt, dagegen anzuposten, doch die Livestreams aus dem eigenen Wohnzimmer wirken wenig likeable im Vergleich zu den lässigen «So in love»-Posts von der Mailänder Fashion Week oder dem exotischen Wasserfall auf Bali. Und der Bedarf an Stay-at-Home-Smoothies und Homeoffice-Work-outs ist zu klein, als dass die Flut von Influencern davon leben könnte.

«Game over» für die Influencer

Key Learning: Das Influencer-Game ist over. 2019 haben Marketingentscheider 8,5 Milliarden Euro für Social-Media-Stars ausgegeben. 85 Prozent der Budgets sind jetzt gestrichen. Die meisten für immer. Gebuchte Freundschaft und Sponsored-Posts funktionieren nicht mehr in einer Zeit, in der Zehntausende Menschen getötet werden und Millionen um ihre Existenz kämpfen. So brutal Covid-19 die Welt zerfrisst, es hat eine heilende Nebenwirkung auf unser Wertesystem: Plötzlich sind die Helden die Krankenschwestern und Ärzte oder Verkäuferinnen an der Supermarktkasse, die während der Pandemie an vorderster Front stehen – nicht mehr die It-Kids aus der Front Row. Jetzt geht es nicht mehr um Likes, sondern um Lebenretten. Es geht um echte Werte. Echte Leistung. Es geht um Haltung. Um Authentizität und Commitment. Key Learning: Fake is over. Weniger Produkt, mehr ­Purpose. Es geht nicht mehr um das WAS, sondern viel mehr um das WARUM. Wenn wir ­irgendwann auf 2020 zurückblicken, werden wir erkennen: Es gab eine Welt vor Corona und eine Welt danach. Nichts dazwischen.

Das «Gestern» war noch nie so alt wie heute

Die «Throwbacks», die ungefragt auf Social Media hochgeladen werden und uns an früher erinnern wollen, wirken wie aus einem anderen Leben. Gab es das wirklich mal? Menschen ohne Masken, angstfreie Umarmungen, das Society-Bussi-Bussi … unvorstellbar heute. Spots aus der Vor-Corona-Ära wirken wie Botschaften aus dem letzten Jahrhundert. Toxische Kommunikationskonserven. Wir können sie getrost entsorgen. Die Post-Corona-Ära hat ein anderes Look & Feel. Verletzlicher, wertschätzender, tiefgründiger. Wer das nicht versteht, wird missverstanden.

Verknappung kannten wir bisher nur von Luxury-Brands, die ihre Pieces künstlich limitiert haben, um damit Begehrlichkeit zu pushen und am Ende den Preis. Jetzt haben alle erlebt, dass über Nacht die Regale mit Nudeln und Toilettenpapier leer sein können. Das verändert den Blick.
Die Menschen sind sensitiver geworden. Sie registrieren genau, wie falsch es ist, wenn ein Fussball-Millionär stolz ein Selfie aus seinem 216’000 Euro teuren Bentley Cabriolet postet, während in New York Leichen in Kühltrucks gestapelt werden. Das gesellschaftliche Entsetzen ist heute grösser als noch bei der Finanzkrise 2007/2008. Corona ist eben Markt-Crash und tödliches Virus zugleich.

Authentizität steht hoch im Kurs

Die Menschen registrieren jetzt aber auch nachhaltig, was richtig ist. Wer sich wirklich für andere einsetzt. Dieser Switch vom ICH hin zum WIR ist entscheidend. Dieses neue Gefühl von Gemeinschaft und Solidarität. Das verbindet. Wenn Companies, die selbst in Not sind und Umsätze verlieren, ihre Manufakturen umstellen, um statt exklusiver Parfums dringend benötige Desinfektionsmittel zu produzieren oder Atemmasken statt angesagter It-Shirts nähen. Aus Konkurrenten werden Kollegen. Budgets gehen nicht in Kampagnen, sondern in Hilfsprojekte. Yes, we are in this together. Diesmal ist es mehr als ein Slogan. Es ist eine Zeitenwende. «Zum ersten Mal in der Geschichte sind wir alle in einer Sache vereint», sagt Designerin Stella McCartney. The World united im Kampf gegen Corona und die unabsehbaren Folgen der Pandemie …

«Wir müssen aus dieser Krise mit einer Veränderung herauskommen», meint Stella McCartney und zeichnet das Big Picture: «Zum ersten Mal in der Geschichte können wir exakt den Schaden messen, den wir der Erde antun, wenn wir zum Beispiel sehen, dass die CO2-Emissionen durch den Lockdown allein in China um 25 Prozent heruntergehen.» Die Krise als Chance.

Also alles auf Reset. Wir müssen unser Mindset neu justieren – so fundamental wie wir es zuletzt nach #Metoo und #TimesUp gemacht haben. Venture Capitalists im Silicon Valley sagen: «Niemand bereut es, sich schnell und entschlossen an die veränderten Umstände anzupassen» Bei diesem Satz erinnere ich mich an die internationale Luxury Conference in Kapstadt, April 2019. Erst ein Jahr und doch wie eine Ewigkeit. Auf der Agenda stand nichts Geringeres als die Zukunft des Luxus. Aber diese Zukunft hat niemand vorausgesehen. Auf dem Podium diskutierten die CEOs von Gucci bis Tiffany über Sustainability, Diversity und Inclusivity. Die Buzzwords der Saison. Und wie wichtig doch Transparenz in den Lieferketten sei. Heute geht es vor allem um Infektionsketten. Der neue USP von Amazon: Dafür zu sorgen, dass die Pakete virenfrei an die Haustür kommen.

Mehr (Frei-)Zeit, als wir aushalten?

Vor Corona waren sich die Thought-Leader im Premium-Segment einig: Zeit sei der neue, der wahre Luxus. Die Menschen würden zu sehr durch die Welt hetzen. Heute kleben wir in unseren Homeoffices und haben mehr Stunden übrig, als wir aushalten können.

«The New Normal»: Social Distancing statt Shared Workplaces. Das eigene Auto wird zum neuen Safe-Place, weil es virenfreier ist als Car-Sharing. Sicherheit gilt heute als grosser Luxus. Gesundheit ist Luxus, absolut. Die neuen Botschaften lauten: Hilfe und Solidarität. «I care» ist das neue «I love». Breitling-CEO Georges Kern sagt: «Wir werden künftig ein anderes Verständnis von Luxus haben, bewusster, mehr casual und weniger formal.» Mercedes-CEO Ola Källenius sieht eine Ära von «modern sustainable luxury». Für die Luxury-Industry mit ihren 281 Milliarden Euro Jahresumsatz spannende Perspektiven.

Lockdown und Sinnfrage

Designer und Kreative haben den globalen Lockdown genutzt, um die Sinnfrage zu stellen. Ist es wirklich smart, mit Fast Fashion und einer endlosen Lieferungsflut immer mehr und immer schnellere Hypes zu kreieren? Das Outcome: 2019 wurden weltweit 114 Milliarden Kleidungsstücke verkauft. Downside: 70 Prozent aller Textilien landen ungetragen auf dem Müll. «Wir haben alles bis zum Exzess getrieben», bekennt Designer Marc Jacobs im Quarantäne-Call: «Am Ende war jeder erschöpft. Der Designer, die Kunden, die Gäste – keiner konnte es wirklich mehr wertschätzen. Eine Verschwendung von Zeit und Energie und Geld und Material.»

Sein Learning: «Die Fashion-Welt, wie wir sie kennen, wird es nicht mehr geben. Das Positive jetzt ist, dass jeder in sich selbst reinhören kann, was trage ich ­eigentlich zum Wohl der Welt bei? Wenn jeder von uns etwas Gutes für jemanden anderes tut, sind wir weiter, als wir es vor der Krise waren.»

Absurde Überproduktion

Giorgio Armani, Grossmeister des guten Geschmacks, appelliert in einem offenen Brief an alle Kollegen: «Die Überproduktion ist absurd. Luxus kann und darf nicht schnell sein. Luxus braucht Zeit, um erreicht und geschätzt zu werden.» Sein State of Mind: «Es macht keinen Sinn, dass eine meiner Jacken oder Anzüge drei Wochen im Laden hängt, bevor sie schon als veraltet gelten und durch neue, nicht allzu unterschiedliche Waren ersetzt werden müssen. Ich finde es unmoralisch, dies zu tun. Und genug mit den Events, wo man um die ganze Welt fliegt, um Shows zu inszenieren, die in der heutigen Zeit von Nachhaltigkeit unpassend und sogar ein bisschen vulgär erscheinen und letztlich nur eine Verschwendung von Ressourcen und Geld sind.»

Designer und Brands wie Dries van Noten, Thom Browne, Tory Burch und MyTheresa schliessen sich an. Sie haben eine Initiative gegründet, die Rabattschlachten wie Cyber Monday und Black Friday eindämmen wollen. Gucci und Saint Laurent steigen aus dem Fashion-Week-Kalender aus. Patek Philippe, Rolex, Hublot, Chopard und Tag Heuer verlassen die Baselword, die grösste Uhrenmesse der Welt, und gründen ­einen neuen, vermutlich moderneren Salon. Willkommen in der neuen Normalität: Die meinungsbildenden Top­manager bewerten lange absolut unhinterfragte Rituale, die meist aus einem Vor-Internet-Zeitalter kommen, nach Covid-19 völlig neu. Wer braucht denn mittlerweile noch physische Messen, wenn Produkt-Launches digital zusehends besser, budget­schonender und unabhängig von Pandemien inszeniert werden können?

Wo Verkauf war, wird Verbindung

Virgil Abloh, Sonnenkönig der Luxury-Branche, sagt: «Ich denke, es ist Zeit für unsere Industrie, echte Koalitionen zu bilden. Es geht nicht nur um den Verkauf, es geht darum, eine menschliche Verbindung herzustellen. Kommunikation mit Kunden ist der Schlüssel. Wir müssen einen neuen Weg herausarbeiten, um unseren Kunden wirklich nah zu sein.»

Und: «Ich denke, wir werden einen Trend zementieren mit Fokus auf Sustainability und Konsumenten, die Qualität kaufen. Die Leute werden zu Unternehmen und Brands wechseln, die Purpose haben. Wir haben jetzt die Möglichkeit und die Verantwortung, das Richtige zu tun und die Systemfehler zu verändern.»

Über den Autor: Tom Junkersdorf ist einer der profiliertesten Experten für Luxus und Lifestyle im deutschsprachigen Raum. In seiner Karriere war er bei Axel Springer Entertainment- Chef der Bild-Zeitung und Leiter des New Yorker Büros. Später wurde er Chefredaktor von führenden Magazinen wie Bravo oder People, arbeitete in Madrid und London, ehe er zuletzt mehrere Jahre die Publikationen GQ und GQ Style führte. Im März 2020 brach Junkersdorf zu neuen Ufern auf: In München gründete er Off-ScriptT, eine Agentur, die Brands und Individuen massgeschneiderte PR- und Marketing-Services anbietet.

Weitere Artikel zum Thema