Kreativpreise sind Selbstverarschung

Amir Kassaei ist zum neuen Chief Creative Officer von DDB Worldwide ernannt worden. Dominik Imseng hat ihn interviewt.

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Herr Kassaei: Sie behaupten, einer der «wenigen Wahrhaftigen in einer Branche von Scheinheiligen» zu sein.
Das behaupte ich nicht nur – ich versuche, es zu leben. Ein Riesenunterschied.

Dann verraten Sie uns bitte die Wahrheit über die Werbung im Jahr 2011.
Die unterscheidet sich nicht grundlegend von der Wahrheit über die Werbung im Jahr 1961: Wir sind in einer Branche, in der es darum geht, Unternehmen, Produkte und Dienstleistungen für das Leben der Menschen relevant zu machen. Das haben wir in den letzten Dekaden allerdings vernachlässigt.

Warum?
Quantitatives Wachstum und mit ihm verbunden quantitativer Konsum waren lange Zeit Selbstläufer. Man konnte ohne viel Grips und Aufwand auch für Sinnloses Nachfrage schaffen. Mit der Digitalisierung der Welt und einem allmählichen Wertewandel ist damit jedoch langsam Schluss. Aber die Werbe-branche hat noch ein weiteres Problem: Jeden Tag erzählen wir unseren Auftraggebern, dass sie den Mut haben sollen, Neuland zu betreten. Tatsächlich ist die letzte Innovation in der Werbung 60 Jahre alt: die kreative Revolution von Bill Bernbach.

Werbung ist eine der strukturkonservativsten Branchen überhaupt.
Danke schön! Darum haben wir bei DDB Deutschland die gesamte alte Struktur aufgebrochen. Die klassische Situation, dass ein Texter und ein Art Director über dem Briefing eines Kundenberaters brüten und eine Werbeidee suchen, wurde bei uns komplett auf den Kopf gestellt.

Sie wollten auch den ADC Deutschland reformieren, haben aber nach einem Jahr das Handtuch geworfen.
Ich war zu wenig diplomatisch – und auch zu blauäugig. Als Trost bleibt mir, dass in den zehn Monaten meiner Amtszeit die grössten Veränderungen der ADC-Historie angeschoben wurden und mein 10-Punkte-Programm vom neuen Vorstand vorbehaltlos weiterverfolgt wird.

Sie wollten das traditionelle Kreativ-Ranking abschaffen.
Ich wollte es durch ein Ranking mit zehn verschiedenen Kriterien ersetzen, um die Leistungsfähigkeit einer Agentur zu beurteilen. Die Agentur mit den meisten Kreativpreisen ist noch nicht per se die innovativste. Man muss Kreativität viel umfassender verstehen: als Kompetenz, ein Problem so zu lösen, wie es noch niemand gemacht hat. Das einzige, was das Gewinnen von Kreativpreisen beweist, ist, dass man gut im Gewinnen von Kreativpreisen ist.

…sagt einer der meistausgezeichneten Werber der Welt.
Die Verhältnismässigkeit stimmt einfach nicht mehr. Das System der Kreativpreise ist ein System der Selbstverarschung, das mit den realen Problemen der Auftraggeber fast nichts zu tun hat. Das ist, als würden die Automobilhersteller schlechte Serienautos bauen und ihren Prototypen Preise verleihen. Und da wundern wir uns Werber, dass Auftraggeber uns nicht mehr ernst nehmen? Dass wir in der Gesellschaft einen schlechten Status haben? Dass wir immer weniger Geld verdienen? Dass wir immer mehr Probleme mit dem Nachwuchs haben? Warum sollte jemand auch in diese teils sehr verlogene Branche wollen?

Warum «verlogen»?
Unsere Branche produziert immer seltener nachweisbaren Mehrwert für unsere Auftraggeber. Unsere Aufgabe und Verantwortung ist es aber, mit unserer Kreativität die Marketing- und Business-Probleme unserer Kunden zu lösen. Nur das führt zu einem besseren Ruf unserer Branche, zu einer innovativen Definition von Kreativität und zu einem Geschäftsmodell, bei dem wir für unsere Ideen bezahlt werden statt für unsere Stunden.

Ist das die Philosophie Ihrer kreativen Unternehmensberatung Hubble?
Hubble ist keine Unternehmensberatung. Hubble ist, wie der Name schon sagt, unser Teleskop in die neue Welt. Ein globales Open-Source-Netzwerk, das mit Innovationen das Leben der Menschen einfacher, besser und effizienter machen will. Ein moderner Think Tank, der proaktiv die Welt, die technologischen Trends und die Bedürfnisse der Menschen analysiert, um substanzielle Lösungen zu produzieren.

Was soll den Menschen in 50 Jahren einfallen, wenn sie an Amir Kassaei denken?
Wenn sie mich als Beispiel für die Tatsache nennen, dass man mit Leidenschaft, Wille und Mut trotz nicht vorhandener Voraussetzungen aus seinem Leben etwas Besonderes machen kann, wäre ich zufrieden.

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In Kürze
Amir Kassaei – 1968 in Teheran geboren – war Marketingassistent bei L’Oréal in Paris und danach in Wiener Werbeagenturen Buchhalter, Berater, Reinzeichner, Art Director, Mediaplaner, Texter und Agentur-Mitgründer. 1997 wechselte er zu Springer & Jacoby in Hamburg, wo er bis zum Executive Creative Director aufstieg. Seit 2003 war Kassaei als Kreativchef und geschäftsführender Gesellschafter für den Turnaround von DDB Deutschland mitverantwortlich. Im New Yorker Headquarter von DDB blieb dies nicht unbemerkt: Soeben wurde Kassaei zum neuen Chief Creative Officer von DDB Worldwide ernannt.
 

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