TNT für Frankreichs TV-Markt

Digital-TV Die Zahl der frei empfangbaren Fernsehsender hat sich auf einen Schlag verdreifacht. Der Werbekuchen geht wohl bedeutend weniger schnell auf.

Digital-TV Die Zahl der frei empfangbaren Fernsehsender hat sich auf einen Schlag verdreifacht. Der Werbekuchen geht wohl bedeutend weniger schnell auf.Auch eine Art von Revolution: «La Grande Nation» hat die televisuelle Steinzeit überwunden und verfügt ab sofort über mehr als eine Hand voll TV-Sender. Die «télévision numérique terrestre» (TNT) bringt seit vergangener Woche auch ohne Kabel oder Satellit digitale Fernsehqualität in die französischen Stuben. Der Kauf eines Decoders ab 79 Euro und der Anschluss an eine Hausantenne genügen.Aber wird sich das TV-Publikum auch darauf stürzen, um neue, zum Teil noch völlig unbekannte Kleinsender konsumieren zu können? Der französische Durchschnittsfernseher folgte bisher eher dem Herdentrieb als einem Hang zum Individualismus und dürfte, so schätzen die meisten Experten, den bisherigen «chaînes généralistes» eher treu bleiben. Vielleicht noch treuer als zum Beispiel die Engländer, die ihre angestammten Sender nach der Einführung von TNT noch zu 82 Prozent schauen.
Ideologische Schlammschlacht
Die grossen Fernsehsender rechnen natürlich mit einem gewissen Verlust an Marktanteilen und Werbeeinnahmen, verfallen aber keineswegs in Panik. Patrick Le Lay, Präsident des Schwergewichts TF 1, hatte zwar alles drangesetzt, die Einführung von TNT zu verhindern. Dabei spielte aber nicht nur die Angst vor der neuen Konkurrenz mit; die Privatkette verdächtigte die Linksregie-
rung von 1999 nicht ganz zu Unrecht, das Digitalfernsehen TNT sei in erster Linie ein Werkzeug gegen die Vorherrschaft von TF 1. Le Lay bezeichnete das TNT-Projekt deshalb sogar als «marxistisch». Nun ebnete ausgerechnet der bürgerliche Premierminister Jean-Pierre Raffarin dem terrestrischen Digital-TV auf Druck der Staatssender – und mit Duldung von Staatschef Jacques Chirac – endgültig den Weg.
Kein Wunder, schwingt sich Le Lay jetzt selbst auf den Zug, den er nicht stoppen konnte, und macht gleich bei mehreren Kleinsendern mit. Negative Folgen für TF 1 befürchtet er gegen aussen plötzlich nicht mehr. Hingegen sagt er einen noch härteren Wettbewerb und die Betonung des «Ereignis-Fernsehens» voraus. Damit meint er etwa das aktuelle Blockbuster-Format «Première Compagnie», bei der Prominente in einer tropischen Militärkaserne zum Beispiel lernen, wie man durch den Dreck kriecht und – noch schwieriger – auf den eigenen Mund sitzt.
Angesichts der gewaltigen Mit-
tel, die Sender wie TF 1 oder France 2 tagtäglich in die Schlacht um Einschaltquoten werfen, werden es die TNT-Junioren schwer haben. Ihre Zukunftsaussichten gelten denn auch als unsicher. So schätzt die Vertriebsgesellschaft TDF, dass 2010 erst etwa 5 Millionen Haushalte mit einem Decoder ausgerüstet sein werden; die Medienberatung NPA geht von 6,5 bis 8,5 Millionen verkauften Geräten aus. Bei knapp 25 Millionen Haushalten in Frankreich sind das nicht gerade überwältigende Voraussetzungen.
Über die künftigen Marktanteile der bisherigen und der neuen Sender gehen die Meinungen weit auseinander. Die Mediaagentur Carat Expert etwa kommt in einer ausführlichen TNT-Studie zum Schluss, dass die Zuschauerquote von TF 1 von derzeit 31,8 auf etwa 26 Prozent zurückgehen könnte; jene von M6 soll von 12,5 Prozent auf ungefähr 10 Prozent sinken. Demgegenüber räumt Carat den «Neuen» bei TNT zusammen langfristig eine Quote von einem Viertel bis einem Drittel ein.
Die Börsengesellschaft SG Securities hält das für stark übertrieben. Sie ist überzeugt, dass die neuen TNT-Sender wie in Italien nur einen «mikroskopischen Marktanteil» ergattern können. «Wer mit einer Zuschauerquote von weniger als einem Prozent Werbung akquirieren will, begibt sich auf eine ‹Mission impossible›», meint Arnaud Frérault von SG Securities. Dies erklärt zum Teil, warum Werbespots zumindest bei den TNT-Novizen in der Anfangsphase nur zwischen 10 und 300 Euros kosten.
Kommerzielle Spätzünder
Eine grosse Rolle spielt in Frankreich auch die so genannte «Platzhirsch-Prämie». TF 1 und M6, die zusammen auf eine Quote von rund 44 Prozent kommen, vereinen wegen des Leaderbonus einen Werbeanteil von nicht weniger als 77 Prozent auf sich. Daran können Mini-Sender mit Mini-Budgets höchstens knabbern. Überdies dürfte der Werbeausfall für TF 1, France 2 oder M6 durch die bevorstehende Öffnung des französischen Fernsehens für Supermarkt-Werbung weit gehend kompensiert werden. Diese ist derzeit noch untersagt; ab 2007 aber dürfen auch Detailhändler wie Carrefour oder Champion TV-Spots schalten.
Carat geht davon aus, dass die Werbesekunde dann um durchschnittlich 7 Prozent teurer wird. Das Gesamtvolumen, so schätzt die Pariser Agentur, könnte damit um bis zu 500 Millionen Euro zunehmen. TF 1 dürfte mit 200 Millionen den Löwenanteil einheimsen. Bis in zehn Jahren sollen die französischen TV-Werbeausgaben ohnehin von heute knapp
6 auf über 9 Milliarden Euro steigen.
Die TNT-Junioren werden sich aber fürs Erste gedulden müssen. Der bretonische Finanzinvestor Vincent Bolloré räumt ein, dass er mit seinem Sender Direct 8 frühestens 2012 schwarze Zahlen schreiben wird. Und auch Didier Beauclair von der «union des annonceurs» prophezeit: «Die Werber warten erst mal ab, bis die ersten Resultate da sind.» Anders gesagt: Kommerziell wird die Bombe TNT wohl eher ein Spätzünder.
Die neuen Fernsehsender werden auch Blockbuster-Formate wie «Première Compagnie» konkurrenzieren.
Télévision à la françaiseDie Franzosen lieben die Freiheit,
begnügen sich im Normalfall aber mit fünf frei zugänglichen Programmen (sechs, wenn man den Pay-TV-Sender Canal Plus hinzuzählt). Wer nun meint, die Kulturnation des Savoir-Vivre sässe eben nicht so viel im Pantoffelkino, täuscht sich: Mit 3 Stunden und 24
Minuten verbringen die Franzosen im Schnitt etwa gleichviel Zeit vor dem «petit écran» wie die übrigen Europäer.
Erst ein Viertel aller Franzosen verfügt über Satellitenschüssel, Kabelanschluss oder Breitbandzugang, um ausländische Sender im Dutzend zu empfangen. Entsprechend gross sind die Zuschauerquoten der grossen französischen Sender: Der 1987 privatisierte, zum Baukonzern Bouygues gehörige Sender TF 1 wird von fast einem Drittel der Franzosen geschaut (31,8 Prozent). Darauf folgen die Staatssender France 2 mit 20,5 Prozent Anteil und France 3 mit 15,2 Prozent.
Der 1984 gegründete Bezahlsender Canal Plus auf dem vierten Kanal gehört zum Vivendi-Konzern und ist von 3,8 Prozent der Fernsehzuschauer abonniert. Der Bildungssender France 5 wiederum erreicht tagsüber 6,7 Prozent Zuschauer und wird abends vom deutsch-französischen Kulturkanal Arte (3,7 Prozent, gegenüber 0,8 Prozent in Deutschland) abgelöst. Und das vor allem von Jugendlichen konsumierte Programm M6 aus dem Hause Bertelsmann hat seine «audience» in den letzten Jahren kontinuierlich auf 12,5 Prozent gesteigert.
Seit letzter Woche erlaubt das digitale TNT den Empfang von 14 weiteren Programmen. Einige existieren bereits auf Kabel. Andere sind völlig neu, wie etwa Direct 8 (Gruppe Bolloré) und
NT 1 (Gruppe AB), die ein generelles Vollprogramm anbieten. Musik steht im Mittelpunkt von W9 (von M6 lanciert) sowie NRJ 12, mit dem sich der Radiosender NRJ in den Fernsehmarkt wagt. Dazu kommen TMC (Télé-Monte-Carlo), an dem TF 1 beteiligt ist, und der staatliche Kultursender France 4. In einem zweiten Schritt werden zahlungspflichtige Sender dazukommen. (brä)
Stefan Brändle, Paris

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