Wer einen Shitstorm will, setzt auf plumpe Rollenklischees

Es ist ein Aktionsfeld mit Fettnäpfchen: Gender Marketing verspricht höhere Umsätze, entwickelt sich aber zum Balanceakt. Da die Grenze zwischen weiblichen und männlichen Rollenbildern immer durchlässiger – und der Markt immer transparenter – wird, ist der Shitstorm nie weit. Chancen hat nur, wer tief in die Kundenseele blickt, genderneutral kommuniziert und mit viel Feingefühl agiert.

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Sie sind jung, hoch qualifiziert und ambitioniert. Schlagzeilen schreiben Fanny Chollet, Danuta Cichocka und Andrea Ablasser aber aus einem anderen Grund: Sie erobern Männerdomänen. So ziert Oberleutnant Chollet als erste Kampfjet-Pilotin der Schweizer Armee die Titelseiten. Dr. Cichocka, Mitgründerin und CEO von Resistell erhielt den ersten vom Swiss MNT Network vergebenen Preis für das beste Nanotechnologie-Startup. Und EPFL-Professorin Ablasser wurde für ihre Forschungsarbeit zur angeborenen Immunität mit dem Nationalen Latsis-Preis 2018 ausgezeichnet. Frauen mit geschlechtsuntypischen Berufswegen sind selten. So selten, dass der Schweizerische Nationalfonds, der die wissenschaftliche Forschung in strategisch wichtigen Bereichen fördert, es für ein Muss hält, sie im Erwerbsleben zu unterstützen. Dasselbe gilt für Bildung und Erziehung, in denen Identitäten geprägt und Lebensmodelle entworfen werden. Ein Grund, warum die Ungleichheiten im Verhältnis der Geschlechter so hartnäckig fortbestehen, ist dort zu suchen. Ein anderer liegt in der Wirtschaft. Vor allem im Konsumgütersektor werden jahrhundertealte Rollenbilder und Erziehungsmuster gepflegt – mit Gender Marketing.

Kein Hörensagen, sondern Tatsache

Die aus der Neuen Welt importierte Spezialdisziplin basiert auf einem am Geschlecht (Gender) orientierten Marketing-Ansatz. Im Gegensatz zum LGBT-Marketing, das Lesbian, Gay, Bisexual und Transgender Zielgruppen adressiert, ist die Welt des Gender Marketing nur zweigeteilt: Konsumenten sind weiblich oder männlich. Bestätigt wird die duale Sichtweise von Neurobiologen und Hirnforschern. Sie erkannten, dass unterschiedliche Hormonkonzentrationen der Grund dafür sind, dass Gehirntypen bereits im Mutterleib auf den empathisch-weiblichen oder systematisierend-männlichen Typ gepolt werden. Im 2004 erschienenen Buch «Vom ersten Tag an anders» fasst Simon Baron-Cohen bedeutsame Experimente zusammen – eine Pflichtlektüre für Manager, die auf Gender Marketing setzen. «Ich bin ein Fan des britischen Psychologen», sagt Anja Peter, CEO der Human Empowerment Center AG. Dieses Buch zeige den Leuten nochmal deutlich, dass es beim fundamental unterschiedlichen Informations-, Kommunikations- und Kaufverhalten von Frauen und Männern nicht um Hörensagen, sondern um vielfach nachgewiesene Tatsachen geht (siehe Interview). Sie müssen aber auch richtig gedeutet werden, damit Gender Marketing funktioniert. Das ist schwierig in der Schweiz, wo vorwiegend Männer über Ziele und Strategien entscheiden und der weiblich besetzten operativen Ebene damit die Richtung vorgeben.

Best Cases sind selten

Von biologisch bedingten Notwendigkeiten abgesehen gibt es kaum überzeugende Gründe dafür, Produkte und Dienstleistungen geschlechtsspezifisch anzubieten. Dass sich Gender Marketing dennoch zunehmender Beliebtheit erfreut, liegt daran, dass es allzu häufig als Lösung marktbedingter Probleme verstanden wird. Sie verdoppelt die Zielgruppe nur vordergründig und eignet sich daher nicht, um produktpolitische Versäumnisse oder fehlende Alleinstellungsmerkmale zu kompensieren. Es bedarf schon intensiver Marktforschung, um festzustellen, ob und wie stark die Bedürfnisse, Wünsche und Verhaltensweisen der Nachfrager divergieren. Erst dann lässt sich entscheiden, ob sich die Modifikation eines Produktes lohnt und wie es zu gestalten ist. So entwickelte sich etwa der für Frauen gedachte Akku-Schrauber IXO von Bosch, der klein, leicht und einfach bedienbar ist, auch zum Verkaufshit für Männer. Erfolgsbeispiele wie diese sind selten und zeigen, dass gut durchdachtes und fein auf die Zielgruppe abgestimmtes Gender Marketing funktionieren kann. Es scheint jedoch mehr die Ausnahme als die Regel zu sein. Oft fehlt die tiefere Einsicht in die Kundenbedürfnisse, sodass der vermeintliche Ausweg geradewegs ins Dilemma führt. Denn heute ist die Markttransparenz so hoch, dass der Versuch, den Umsatz ein und desselben Produkts allein durch gendertypische Produkt- und Verpackungsdesigns oder – noch schlimmer – durch Werbung mit stereotypen Rollenbildern zu verdoppeln, weder unbemerkt noch ungestraft bleibt. Dann leidet so mancher Hersteller und Detailhändler, der mit Gender Marketing experimentiert, unter dem «Shitstorm» in den sozialen Medien. Was auch erklärt, warum auf eine Stellungnahme zu diesem Thema lieber verzichtet wird

Zu eng gefasste Schubladen

Gender Marketing ist tückisch und läuft zudem an der Marktrealität vorbei, in der mittlerweile rund 85 Prozent der Frauen über das Konsumbudget entscheiden. Ist Werbung diskriminierend oder sexistisch, kritisieren sie am schärfsten. Der Vorwurf, die Bedürfnisse der weiblichen Zielgruppe nicht zu verstehen, wird auch Agenturen vorgeworfen: «Werbung vereinfacht die medizinisch äusserst komplexe Frage nach dem Geschlecht eines Menschen und lässt nur noch zwei Möglichkeiten zu: Mann oder Frau, Mädchen oder Junge», erklärt der Autor und Regisseur Sascha Verlan, «damit schafft sie eine Binarität und Dichotomie, die es im wirklichen Leben nicht gibt». Diesen nur zwei Geschlechtern würden zudem sehr stereotyp Eigenschaften, Fähigkeiten und Interessen zugeschrieben: Frauen würden auf die Bereiche Haushalt, Pflege und Schönheit reduziert; für die «haushaltsunerfahrenen» Männer stünden Alkohol, Fleisch, Abenteuer und Technik im Angebot. «Will ein Unternehmen die Menschen in ihrer Vielfalt ansprechen, sind diese beiden Schubladen sicher zu eng gefasst», betont er. Und erklärt, wie der Teufelskreis des Gender Marketing abläuft: «Produkte werden in zwei Varianten, hellblau und rosa, entworfen und produziert. Werbung reagiert darauf und vermarktet sie entsprechend. Die Normen für weibliche und männliche Rollenbilder verengen sich, gleichzeitig steigt der soziale Druck, diesen neuen, verengten Normen zu genügen. Es wird immer schwieriger, die Geschlechternormen zu durchbrechen, die Wahlfreiheit wird kleiner.» Schließlich verfestige sich die Vorstellung, Frauen und Männer, Jungen und Mädchen hätten grundlegend andere Interessen, Fähigkeiten und Eigenschaften, was die Unternehmen wiederum veranlasse, Produkte in zwei Varianten anzubieten. «Auf diese Weise wurde ein sich selbst verstärkender Prozess in Gang gesetzt, den wir nur mit viel Aufklärungsarbeit und Verantwortungsbewusstsein wieder stoppen können.

Blau für Boys, pink für Girls

Verlan weiss auch, warum viele Gender Marketing-Kampagnen scheitern: «Sie sind einfach zu plump. Da regt sich dann schnell öffentlicher Widerstand.» Das ändere aber nichts daran, dass die gesamte Branche seit über zehn Jahren immer und immer wieder reproduziert, wie Jungen zu sein und was Mädchen zu mögen haben. «Wir Erwachsenen können uns mit viel Bewusstheit dagegen wappnen, Kindern ist das schlicht unmöglich, weil sie die Welt nicht hinterfragen, sondern lernen müssen, sich in dieser Gesellschaft mit ihren komplexen Regeln zurecht zu finden», moniert er. «Sie nehmen die Angebote der Marketingindustrie für wahr.» Aus diesem Grund schrieb er gemeinsam mit Almut Schnerring das Buch «Die Rosa-Hellblau-Falle». Und seit 2016 winkt das Autorenpaar zudem mit dem «Goldenen Zaunpfahl für absurdes Gender Marketing». Der Negativpreis deckt die limitierenden Botschaften, überholten Rollenvorgaben und unterschätzten Wirkmechanismen auf, die von Produktdesign und Werbung ausgehen – und erinnert die Marketingbranche an ihre soziale Verantwortung. Dass er Gewinnern und Nominierten grosse Medienresonanz sichert, liegt in der Natur der Sache. Ob gedruckt, gebloggt oder geliked: Empörte Kommentare tauchen lange auf und schaden dem Markenimage. Wer nach «gendered products» sucht, kann mittlerweile förmlich zusehen, wie die Negativliste an Artikeln für Heimchen am Herd und echten Kerlen wächst. Betrifft es Prinzessinnen und Handwerker, erregen sich die Gemüter besonders. Neben Spielwaren wie Barbie oder Jako-o sind dort auch Schweizer Marken wie etwa die Smarties von Nestlé oder die Kinder-Beutelsuppen der Migros-Marke Bon Chef zu finden – in blau für Boys und pink für Girls.

Verschenktes Potenzial

Verlan und Schnerring weisen auch im Blog «www.ich-mach-mir-die-welt.de» auf die einschränkenden Folgen hin, die es hat, «wenn in nahezu allen Katalogen immer nur Mädchen in den Spielküchen zu sehen sind, während die Jungen mal bauen und konstruieren, Pirat spielen oder ein cooles Fahrzeug ausprobieren.» Das verändere das Weltbild von beiden. «Und später wünschen wir uns dann Väter und Partner, die sich gleichberechtigt in die Familienarbeit einbringen, verwehren Jungen aber früh den spielerischen Zugang.» Unterstützt wird die Kritik noch von ganz anderer Seite. So stellen die Autoren der aktuellen Kantar Millward Brown-Studie «AdReaction: Getting Gender Right» fest, dass Frauen in der Werbung nicht angemessen dargestellt und daher auch nicht emotional gebunden werden. Dies mindere die Effektivität vieler Werbeformate und Kampagnen. Das verschenkte Potenzial könnte aber auch tiefere Ursachen haben. «Solange Marktforschung mit relativen Mehrheiten hantiert, und daraus dann Trends und Wünsche des Zielpublikums ableitet, wird es schwierig bleiben mit der individuellen Ansprache und dem passenden Angebot, weil nicht nur einzelne, sondern die Mehrheit gar nicht erfasst wird», sagt Verlan. Da seien zum Beispiel einmal Kinder befragt worden, welche Farbe ihr Lieblingsauto haben müsste. «Darauf antworteten knapp 30 Prozent der Mädchen: rot und gut 30 Prozent der Jungen: schwarz, das heisst, jeweils die Mehrheit der Jungen und Mädchen bevorzugt andere Farben. Die Wünsche insgesamt sind bunt.

Besser ohne Klischees

Auch wenn es im Markt dann doch nur zwei Farben gibt: Es tut sich einiges auf dem Experimentierfeld Gender Marketing. Nach ersten Versuchen der nominierten Firmen, den Wink mit dem Zaunpfahl zu ignorieren, hätten einige im zweiten Jahr den Dialog gesucht, sagt Verlan. «Wir werden aber auch eingeladen von Unternehmen, die sich nicht nur oberflächlich mit unserer Kritik auseinandersetzen», erklärt er. Da hätten sich gute Gespräche entwickelt, «und es wird deutlich, dass es auch innerhalb der Teams unterschiedliche Haltungen gibt». Immer mehr Unternehmen erkennen, dass gemischte Teams die Fettnäpfchen im Gender Marketing besser erkennen. Und manche machen es nach dem ersten Fauxpas richtig, wie etwa Stabilo: Nachdem der sexy Marker «Neon» auf Protest stiess, wird in der Werbung nun drei vergessenen Wissenschaftlerinnen der Geschichte die Ehre gegeben. Authentisch und glaubhaft wirkt auch der Mercedes-Benz-Spot, der Bertha Benz auf ihrer Pionierfahrt zeigt. Genderneutrale Ausweichmanöver dieser Art verlieren allerdings an Wirkung, wenn der Trend ins Gegenteil schwingt. So hat das britische Luxuskaufhaus Selfridges gerade das «Genderless Shopping»-Zeitalter ausgerufen, auf das auch Zukunftsforscher hinweisen. Einen solchen «Agender»-Trend kann Verlan bisher nicht beobachten, ein Marketing ohne Rollendiskussion wäre aber wünschenswert. «Dazu müssen wir uns zu allererst klar machen, wie und warum Gender Marketing funktioniert und welche psycho-sozialen Folgen es nach sich zieht», meint er, «und dann müssten wir uns alle entscheiden, ob es wirklich gute Botschaften sind, die wir Kindern da auf den Weg mitgeben.» Nicht nur Männerdomänen erobernde Damen dürften seine Anschlussfrage verneinen: «Ist es wirklich hilfreich, Kinder in diesen klischeehaften Welten spielen zu lassen?»

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