„Digital ist besser“ – 20 Jahre später

„Eine Internetseite hat doch meine Firma schon!“ denken Sie jetzt vielleicht. Das ist damit aber nicht gemeint. Digitalisierung umschreibt den momentanen Turbogang der digitalen Sphäre, dem sich kein Unternehmen entziehen darf, welches morgen noch auf dem Markt sein will. Doch beginnen wir vorne. Vielleicht ist in Ihrer Firma schon beispielsweise das automatische Scannen der Eingangspost, die Nutzung digitaler Kommunikationskanäle sowie das Archivieren auf Festplatten statt Ordnern seit einigen Jahren Praxis. Das geht jedoch noch nicht weit genug, entspricht es doch immer noch der herkömmlichen Bedeutung des Begriffs „Digitalisierung“ – das Transformieren analoger Medien in digitale Daten.So simpel dieser Begriff „Digitalisierung“ klingt, so wenig wird er den mannigfaltigen Ausprägungen gerecht. Er umfasst in der heutigen Verwendung verschiedenste Bereiche wie Internet of Things, iBeacon, Smarthome, Oculus Rift, Mobile Payment, Augmented Reality, Google Glass, Cloud etc. Alles schon mal irgendwo gehört, oder? Gut, denn es beinhaltet Dynamit – vielleicht auch für ihre Branche. Die Schlagkraft der Disruption, die meist nicht durch die aktuelle Konkurrenz ausgelöst wird, sondern durch den unbekannten Dritten, hat bereits einige Branchen komplett umgewälzt.Ein Beispiel: Die Lösung digitaler Musik lag nicht in der CD, sondern sie liegt heute in einem Design-MP3-Player mit Telefonfunktion und Musik-Streaming-Apps. Das radikale Umwerfen der Digitalisierung, die die CD in den 80er Jahren eingeläutet hat, weit vor der Digitalfotografie, ist eine tragische Geschichte. Der Siegeszug und die Vorreiterrolle wurden ihr wohl zum Verhängnis: es war der erste flächendeckende Einzug eines digitalen Mediums in alle Privathaushalte. Sollte sie doch die LP ersetzen, was man ihr damals mit Leichtigkeit zugetraut hatte, ist sie heute selbst zum Anachronismus mutiert. Wann haben sie das letzte Mal einen Disc-Man (mobilen CD-Player) benutzt? Vom Verdränger zum quasi Verdrängten in nur 25 Jahren. Die mehrfach totgesagte Schallplatte boomt wieder und wird die CD überleben.Wendet man diese Erkenntnis auf Unternehmen an, heisst das: Ist ihr Produkt oder ihre Dienstleistung digitalisierbar? Wie würde das digitale Pendant ihrer Leistung aussehen? Oder ist sogar mein komplettes Unternehmen digitalisierbar? Was bringt mir eine Digitalisierung? Eben hier trifft man ins Mark digitaler Innovationen, die bisher zu wenig Beachtung in Unternehmen finden.Muss ich als Unternehmer mitmachen? Müssen wir nun wirklich alle zu Technologieunternehmen werden, wie Nick Sohnemann von Future Candy auf dem Trendtag vor Monaten in Berlin postulierte? So pauschal kann man das nicht beantworten – in manchen Branchen mag man sehr wenig Potential zur Digitalisierung entdecken, in anderen wiederum sehr grosses – wir empfehlen, dass sich jede Firma einem „Digital-Check“ unterziehen sollte, inwieweit bestimmte Geschäftzweige ergänzt oder auch substituieren werden können. Dabei darf der Digitalisierungsgedanke nicht zum Selbstzweck werden und kann auch kein Allheilmittel sein, noch darf er einfach ignoriert werden. Digitale Konzepte sollten erstellt und bewertet werden sowie selbstbewusst eine Vorreiterrolle in ihrer Branche einnehmen. Man darf nicht denken, wenn man mit der Vogel-Strauss-Taktik lange genug nicht hinschaut, würde das Internet mit allen seinen Ausprägungen wieder verschwinden.Beachten Sie, dass Ihre Zielgruppen anders denken könnte als sie selbst: Wenn junge Erwachsene Unternehmen und Marken nach deren digitalen Präsenzen und Services beurteilen und danach ihr Konsumverhalten ausrichten, kann ihr Angebot im Kern noch so gut sein, wenn Sie „da draussen im Internet“ nicht als moderne Marke mit Digitalkompetenz begriffen werden, wird ihr Geschäft darunter leiden. Nicht nur Kontaktaufnahme und Dienstleistungen wollen heute neu definiert werden, sondern auch ihre Markenführung an sich. Wie fit ist ihre Marke im Digitalen? „The one picture“ existiert nicht mehr. Heute begegnet ihre Corporate Identity den Menschen in einer Vielzahl digitaler und analoger Touchpoints. Das monotheistische Markenkanzeln ist passé, Top-down Kommunikation wird heute durch Social Media untergraben. Anpassen und mitwachsen lautet also die Devise.Dass Internet-Werbegelder die der Printmedien bald überholt haben, ist nicht neu und dies liegt nicht nur an dem steigenden Angebot an Devices, sondern auch an den wachsenden Nutzerzahlen. Nicht mehr alle Haushalte haben eine Tageszeitung abonniert und schon mehr als die Hälfte der Bevölkerung nutzt Smartphones. Die Tendenz, dass auch hier ein Paradigmenwechsel vor der Tür steht, wird durch einige Studien gestützt (Studien zu Deutschland: hier und hier & Studie zur Schweiz).Aber wann verstehen endlich alle Medienhäuser, dass sie wegen ihrer Inaktivität im digitalem Angebot Werbegelder verlieren und weil sie ihre digitale Transformation nicht konsequent vorangetrieben haben? Heute werden vielversprechende Projekte wieder abgebrochen, weil dafür angeblich die Werbegelder fehlen. Die Chance zu investieren haben sie verpasst, als Investitionen noch möglich waren. Die BBC macht das richtig vor: Dieses Jahr auf dem Cannes Festival stellte sie Werbekunden ihre neue Augmented-Reality-Newswelt vor. So gerüstet kann man der Zukunft der Medien beruhigt entgegensehen.Ein anderes Beispiel:Einst mächtige Marken wie Nokia haben in den ersten 20 Jahren des Internets die Transformation ihrer Branche versäumt und sich durch akute Halbherzigkeit oder gar Untätigkeit selbst den Exitus verpasst. Aber auch ganze Branchen wie das Verlagswesen haben schwer gelitten. Die Materialität deren Kerngeschäftes war dadurch verschwunden, dass man Texte auch am Bildschirm lesen kann, ohne Papier zu erwerben. Will heissen: Verlage hätten die Lunte riechen und z.B. zeitgleich mit dem iPad bzw. Kindle ihre Inhalte auf einem vergleichbaren Gerät anbieten müssen; sie haben sich beim Transformieren ihrer Domäne sträflicher Weise auf das Zusehen beschränkt. Das gleiche blüht dem Finanzsektor. Hoch technologisiert in Teilbereichen wie dem internationalen Börsengeschäft, beobachten die Banken stillschweigend wie u.a. Paypal den Zahlungsverkehr zu grossen Teilen übernommen hat – und wie man ihnen so das Blut abgezapft. Das Geschäft machen auch hier wieder branchenfremde Unternehmen, die die Alteingesessenen davor nicht als Konkurrenz gesehen hatten, geschweige denn auf dem Radar hatten.Ganz Europa überlässt Amerika, genauer gesagt dem Silicon Valley nahezu den kompletten Markt der disruptiven Konzepte, dank einer diametral anders gelagerten Investment-Kultur. Es ist nicht immer sinnvoll durch kurzfristig ausgerichtete Kosten-Nutzen-Rechnungen eine Branchenumwälzung zu behindern, wo sich ein mutiges Investment in zukunftsgerichtete Konzepte mittelfristig deutlich positiver für ihre Bilanz ausgewirkt hätte. Lassen sie sich gut beraten. An manchen Orten wird aber auch versucht, viel Geld mit dem Digitalisierungstrend zu machen – wenn diese „Revolution“ schon von Politikern diktiert wird, kann und muss man misstrauisch werden, wie Gunnar Sohn zurecht kritisiert.Nicht alles passiert über Nacht und es gibt einige vielversprechende Entwicklungen in der Industrie sowie an Hochschulen der Schweiz und den Nachbarländern. Wir täten gut daran, einen günstigeren Nährboden für eine technische Vorreiterrolle der Digital-Branche vorzufinden und zusammen Lösungen zu finden. Passenderweise ist Kollaboration ja auch ein typisches Merkmal erfolgreicher digitaler Innovationen.Autor: Daniel Unger, Creative Director, Goldbach Interactive (Switzerland) AG 

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