Gibts nun Geld vom Leser?

Apps auf digitalen Mobilgeräten bringen im Lesermarkt Chancen wie auch Gefahren.

Ende letzten Jahres haben wir das Jahr der eReader 2010 (vgl. WW 44/45 2009, S. 28f) vorhergesagt. Mit dem Hype rund um das iPad ist diese Prognose eingetroffen, wobei für die Medienwelt recht eigentlich ein anderes damit verbundenes Phänomen bedeutungsvoller ist: die Apps. Auf Smartphones und auf Tablett-PC sind diese kleinen massgeschneiderten Progrämmchen allgegenwärtig. Dieses Apps-Fieber steht für eine neue Entwicklung im Internet: Anders als im Gratis-Web, wo Inhalte soweit möglich durch Werbung finanziert werden, steht hier der Lesermarkt im Vordergrund.
Apps gibt es in verschiedenen Reifegraden, wobei grob gesehen diese Kategorien unterschieden werden können:
Web-Gratis
Bestehende Web-Portale werden für die Benutzung auf Smartphones oder Tablett-PCs hin optimiert, bieten aber inhaltlich kaum Neues. Ohne markante Zusatzleistungen können sie nur gratis abgegeben werden, und so steigen immerhin die Reichweiten. Seit das iPhone im Sommer 2008 auf den Markt kam, sind solche Apps nicht nur bei Medienangeboten, sondern etwa auch im Handel zur Usanz geworden: Gegen 600’000 iPhones hat allein die Swisscom seither abgesetzt, und fast so viele Downloads ihrer Apps (530’000) haben die SBB verzeichnet. Und andere Unternehmen, wie Coop und Migros, die Online-Bank Swissquote oder der Buchrezensionist getAb-
stract vermelden mehr als 100’000 Downloads ihrer Apps. Der Boom kommt nun erst richtig ins Rollen: Fast jedes zweite verkaufte Mobilfunkgerät war bei der Swisscom im ersten Halbjahr 2010 ein Smartphone, und so werden Apps zunehmend selbstverständlich: als Vertriebskanal, für Werbung und zur Markenpflege.
Print-Paid
Seit mit der Markteinführung des iPad vor allem die Bildschirme grösser geworden sind, können nun die Inhalte der Printprodukte darauf veröffentlicht werden. Leser schätzen den zusätzlichen Bedienkomfort und die globale Verfügbarkeit. Und Verlage sind froh, damit in der Online-Welt endlich einen Zugang zum Lesermarkt gefunden zu haben. Derzeit vergeht kaum eine Woche ohne Ankündigung eines Verlages, sein Printtitel sei nun auch als iPad-App verfügbar. So wird, gleichermassen von Anbietern entsprechender Software-Lösungen und von Ertragsaussichten getrieben, bald die letzte Landpostille auf Apples neustem Wundergerät und den kommenden Tablett-PCs anderer Hersteller verfügbar sein. Weil «dies derzeit bereits sehr stark von unseren Lesern für das iPad nachgefragt» wird, ist bei der NZZ eine kostenpflichtige E-Paper-App in Vorbereitung, wie Peter Hogenkamp, Leiter Digitale Medien NZZ-Gruppe, auf Anfrage erklärt. Bei Tamedia gibt es sowohl bei 20 Minuten wie beim Newsnetz kostenlose News-Apps für das iPad, die mit kostenpflichtigen TV-Applikationen abgerundet werden. Für die SonntagsZeitung wurde Ende August eine kostenpflichtige App lanciert, der eine App für Das Magazin folgen wird. Für den Tages-Anzeiger ist eine kostenpflichtige iPad-Version in Planung, «die zusätzliche Inhalte zur News-App näher an der Zeitung bieten wird», wie Unternehmenssprecher Christoph Zimmer weiter ausführt. Ob mit News-Apps im Lesermarkt Geld zu holen ist, klärt derzeit Ringier ab. Ende Juli wurde eine neue Version der Blick-App lanciert, deren (einmaliges) Herunterladen 4.40 Franken kostet, was die Zeitung als PDF und ein Gratis-Monatsabo mit einschliesst. Seit dem 23. August ist das People-Magazin Schweizer Illustrierte auf dem iPad zum Preis von jeweils 4.40 Franken zu lesen. Nebst den Inhalten der Zeitschrift gibt es bei ausgewählten Themen zusätzliche Bildstrecken, Hintergrundinfos, 360-Grad-Ansichten und Videos. Bereits seit längerem verfügbar sind die Blick-TV-Applikation sowie eine einfache Lösung für Il Caffè. Apps für «weitere Titel in der Deutschschweiz und in der Romandie werden in Kürze folgen», berichtet Thomas Huwiler, Leiter Digital Media Ringier Schweiz.
Huwiler fügt an, Werbetreibende seien daran interessiert, «in den Applikationen als Sponsor oder als Werber aufzutreten und neue Werbeformen auszuprobieren». So können zum Beispiel bei der Schweizer Illustrierten zu einem Einführungspreis von fix 4’500 Franken Fullscreen Ads belegt werden, die Multimedia-Elemente enthalten können. Mit der iPad-Technologie eröffnen sich weitere attraktive Gestaltungsformen, wie ortsbasierte Informationen, Gerätelageerkennung, Interaktion mit dem Benutzer etc. Deshalb ist sich Huwiler sicher, dass mit der Entwicklung am Werbemarkt und bei den technischen Möglichkeiten «hybride und eventuell auch Performanceorientierte Modelle folgen» werden.
Augenweiden-Premium
Herkömmliche Printprodukte einfach mehr oder weniger elegant auf mobilen Bildschirmen abzubilden, gemahnt an die Zeit der ersten Automobile, die lange Zeit noch wie Pferdekutschen daher kamen. Smartphones und Flachrechner sind eigenständige Mediengattungen, die von einem speziellen Nutzungsverhalten geprägt sind und deshalb erst mit entsprechend mediengerecht gestalteten Produkten voll zur Geltung kommen und bei Konsumenten längerfristig beständig akzeptiert werden. In dieser Königsdisziplin, mit der das Potenzial der Tablett-PC ausgeschöpft wird, werden Text, Bild und Video, Illustration und Animation zu einem Multimedia-Feuerwerk orchestriert. Dahin steuert, so Huwiler, Ringier: «Bei der Entscheidung zwischen Geschwindigkeit oder Qualität haben wir uns dafür entschieden, dem Aspekt Innovation ein spezielles Augenmerk zu schenken.» Ringier habe sich klar für eine führende Rolle im Unterhaltungsgeschäft (Konzerte, Radio, Fernsehen, Ticketing etc.) und im digitalen Geschäft allgemein ausgesprochen, und es sei «zu erwarten, dass wir hier entsprechende Angebote bereithalten werden», mit denen man «auch neue Märkte erschliessen» werde. Diese Einschätzung teilt man nach den Worten von Christoph Zimmer bei Tamedia: «Wir erwarten, dass nicht nur die bestehenden Brands auf dem iPad erscheinen, sondern dass dank dieser innovativen Plattform auch neue Inhaltsgefässe entstehen werden.» Und bei der NZZ gibt Peter Hogenkamp preis, gegen Ende Jahr sei eine zweite iPad-App mit weiteren Funktionen vorgesehen, «zu denen ich aber noch nichts sagen kann». Derweil plant in den USA Medienmogul Rupert Murdoch, Chef von News-Corp, eine nationale digitale Tageszeitung, die gemässMedienberichten schon Ende Jahr starten könnte. Das kostenpflichtige Angebot richtet sich an Nutzer von Tablet-Computern wie Apples iPad und will mit kurzen, forschen Artikeln vor allem ein jüngeres Publikum für Bezahlinhalte gewinnen. Und um im aufkommenden Wettbewerb um das News-Geschäft auf Mobiltelefonen und Tabletts besser gerüstet zu sein, hat USA Today Ende August eine tiefgreifende Reorganisation bekannt gegeben, mit der Ressourcen weg vom Print hin zu digitalen Produkten verlagert werden.
Werden Bezahl-Apps auf Smartphones und auf Tablett-PCs zum langersehnten Heilsbringer der Verlagsbranche in der Online-Welt? Nach Einschätzung der Teilnehmer an der WW-Online-Umfrage zu diesem Thema dauert es zwei bis drei Jahre, bis mit Apps auf Mobilgeräten im Deutschschweizer Lesermarkt Gewinne erwirtschaftet werden können. Die folgenden Thesen zeigen, dass der Weg dorthin durchaus dornenreich wird sein können.
Kannibalisierung
Wer eine Zeitung oder Zeitschrift auf dem iPad liest, wird bald das Print-Abo auslaufen lassen. Bei den Verlagen ist man sich dessen bewusst, wie Tamedia-Zimmer bestätigt: «Ein starkes Wachstum der kos-tenpflichtigen iApps wird die Zeitungsabonnemente negativ beeinflussen.» Das wichtigste Ziel bleibe indes, «dass wir unsere Leserinnen und Leser erreichen und sie in einem nächsten Schritt vielleicht bereit sind, für besonders gute Inhalte zu bezahlen». Ähnlich äussert sich Huwiler: «Wir werden unsere Brands auf allen relevanten Kanälen spielen und sehen dies nicht als eine Kannibalisierung der eigenen Titel.»
Verdrängungswettkampf
Apples App-Store, Googles Android Market, aber auch das Ovi-Portal von Nokia, BlackBerry App World, Palm und Windows Marketplace sowie unabhängige, plattformübergreifende Verkaufssites für Apps: Sie alle sind schier unendliche Kioske im Netz. Damit steigt die Wahlfreiheit: Nicht erst mit dem Gang zum physischen Kiosk, sondern jederzeit und überall – und oft spontan – können sich Konsumenten mit Lese- und Unterhaltungsstoff eindecken. Um die (endliche) Aufmerksamkeit der Kunden wird vor allem über sinkende Einzelverkaufspreise gebuhlt. Die Gefahr ist gross, dass damit das Preisgefüge branchenweit ins Rutschen gerät. Derzeit ist bei der Preisgestaltung ein vorsichtiges Herantasten, vor allem mit Angeboten nahe an den etablierten Print-Preisen, zu beobachten.
Reichweitenverluste
Wann ist ein Leser mehr wert: Wenn er für das Produkt selber bezahlt oder wenn seine Aufmerksamkeit an Werbekunden vermittelt wird? Denn schwenken Konsumenten auf die Bezahlangebote im Netz um, fehlt ihre Aufmerksamkeit bei den Gratis-Websites, und somit sinken deren Reichenweiten für die Werbung. Das wäre dann den Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben: Wenn das neue Geld der Leser nicht ausreicht, um die Einnahmeausfälle auf Grund schwindender Reichweiten im Werbemarkt auszugleichen. Es gibt Entwicklungen in beide Richtungen: Werbung wird bei Gratisangeboten toleriert; bezahlen Leser selber für das Produkt, akzeptieren sie allenfalls noch visuell hochwertige Werbung, die nicht als störend, dafür als unterhaltend empfunden wird. Umgekehrt geben Besitzer von Smartphones oder Tablett-PCs scheinbar mühelos Geld für Abonnemente, Apps, Spiele und andere Arten von Unterhaltung aus.
Ausländer gewinnen
Die schrumpfenden Mini-Medienmärkte in der Schweiz sind zu klein, als dass sich daraus Aufwendungen für besondere redaktionelle Produktionen im Sinne der Königsdisziplin finanzieren liessen. Beispiel Iconist: Für dieses digitale Magazin rund um Stil, Kultur und Gesellschaft mit opulenten Bildstrecken und Videos setzt der deutsche Springer-Verlag ein rund 20-köpfiges Team ein, um vierteljährlich in 15 Geschichten jeweils einen anderen Schwerpunkt zu beleuchten. Weil Angebote ausländischer Gross-Anbieter besser gemacht und über die Kioske im Netz einfach erreichbar sind, wird mit den Apps noch mehr Geld aus den Budgets der Werbung und der Konsumenten ins Ausland abfliessen. Werbefenster aus dem Ausland, auf die beim TV heute ein Marktanteil von rund 30 Prozent entfällt, dürften den heimischen Verlegern die Freude an den Apps vergällen.
Druck unter Druck
Dass der Erfolg von iPad und Konsorten zu Lasten gedruckter Produkte gehen wird, ist eine offensichtliche Prognose. Dies wird sich allerdings erst mittel- und längerfristig auswirken, je nachdem, wie rasch eReader in der Masse genutzt werden.
Zusammenarbeit
Codex heisst das Projekt, in dem sich Vertreter von Swisscom, Edipresse, NZZ, Ringier, Tamedia und der Orell-Füssli-Buchhandlung zusammengefunden haben, um den eReader-Markt in der Schweiz gemeinsam zu erkunden. Ende Juli wurde ein mehrwöchiger Test mit rund 150 Kunden durchgeführt. Es ging darum, Kunden-Feedbacks zu erhalten, technische Herausforderungen kennen zu lernen und abzuklären, wie mögliche zukünftige Bezahlmodelle mit digitalen Medien- und Leseinhalten aussehen könnten. In diesen Tagen werden die Konsortiumspartner über das weitere Vorgehen entscheiden. Da der Wettbewerb sowohl bei den Endgeräten wie bei den App-Stores in nächs–ter Zeit stark zunehmen wird, sind die Codex-Ideen eines gemeinsamen Geräteangebots und einer zentralen Plattform für digitale Inhalte wohl kaum noch realistisch. Hingegen dürfte eine amerikanische Studie (A New Digital Future for Publi–shers) mit 1800 Test-Kunden aufschlussreich sein: Sie rät Verlagen unter anderem zur Zusammenarbeit: einerseits untereinander, um Chancen beim Cross-Selling auszuschöpfen, andererseits mit Geräteanbietern, damit die entsprechende App beim Kauf bereits vorinstalliert ist. Also eine Generalabonnements-App für den Zugang auf alle Verlagsangebote. Ob bei uns dafür die Zeit reif ist?
Christoph J. Walther

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