Von Stop Aids bis Love Life
Seit 1987 versucht das Bundesamt für Gesundheit (BAG) die immer gleiche Botschaft zu verbreiten: Benutzt Kondome beim Sex. Das Buch «Positiv» gibt Einblick in den Balanceakt, den Amt und Werbeagenturen mit ihren auffallenden, aneckenden Kampagnen bis heute meistern. Die Werbewoche hat mit der BAG-Verantwortlichen Norina Schwender über die Kampagnen gesprochen.
Die «Stop Aids»-Kampagne, schreibt Journalist und Republik-Mitgründer Constantin Seibt im Vorwort des Buchs «Positiv», sei kein kleiner Grund, auf dieses Land stolz zu sein. «Sie war ein Stück Mut. Und dann ein Stück Können. Sie war handwerklich brillant gemacht.» Diesen Mut zeige das Bundesamt für Gesundheit (BAG) bis heute. Das BAG riskiert zum Beispiel, dass das Parlament empört das Budget für alle Präventionskampagnen halbieren will, wie 2014. Damals zeigte die Kampagne der Agentur Rod Fotos von Schweizern beim Sex – in echt. Nicht selten werden Plakate ausserdem beschmiert und beschmutzt.
Das kleine BAG-Team, das die Werbeaufträge für die Anti-Aids-Kampagnen an Agenturen vergibt, besteht aktuell aus Adrian Kammer und Norina Schwendener. Letztere gibt einen Einblick in ihre Arbeit und die Strategie hinter der aktuellen und den vergangenen Anti-Aids-Kampagnen, die von Beginn an für Aufsehen sorgten.
Hinweis: Dieser Artikel wurde bereits in der Werbewoche 6/2018 vom 23. März 2018 publiziert. Aussagen zur «aktuellen Kampagne» beziehen sich also nicht auf die am Montag lancierte BAG-Kampagne, sondern auf die im Februar veröffentlichte Kampagne «Love Life – Mach den Safer-Sex-Check», ebenfalls von Rod Kommunikation.
Werbewoche: Wenn Sie zurückblicken bis zum Start der damals noch «Stop Aids»-Kampagnen von 1987, welche Kampagnen waren bisher am erfolgreichsten?
Norina Schwendener: Die erste Kampagne hat mit «Stop Aids» den wahrscheinlich prägendsten Slogan in der Präventionsgeschichte hervorgebracht und mit ihm ein Key-Visual etabliert, das jeder kennt: das Kondom-O. Mit Kampagnen wie «ok», «Ohne Dings kein Bums» oder den Piktogrammen konnte die Ausbreitung des HI-Virus in der Schweizer Bevölkerung verhindert und mit Vorurteilen aufgeräumt werden. Mit den neueren Kampagnen unter «Love Life» konnten wir HIV wieder zu einem gesellschaftlichen Thema machen und technologische Neuerungen, wie beispielsweise den Safer-Sex-Check, etablieren.
Überklebte und beschmierte Plakate, Beschimpfungen des BAG, ein empörtes Parlament. Können Sie diese Art der Kritik beispielsweise an den oft sexualisierten Sujets nachvollziehen?
Es ist uns bewusst, dass die Kampagne nicht allen gleichermassen gefällt. Wir müssen aber, wenn wir sexuell übertragbare Infektionen vermeiden wollen, über Sex reden. So lange das ein Tabu ist, wird die Prävention gegen HIV und weitere sexuell übertragbare Erkrankungen behindert.
Verzichten Sie aufgrund der Kritik in der aktuellen* Kampagne auf eindeutige Sexszenen?
Wir haben gezielt nach einem Zugang gesucht, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Safer-Sex-Check lenkt und mit den Restriktionen der grossen sozialen Netzwerke kompatibel ist. Wir müssen uns immer wieder neu erfinden, um wahrgenommen zu werden und dennoch im Einklang mit der «Love Life»-Strategie zu bleiben.
Wie fallen die ersten Reaktionen auf die Spots mit den zweideutigen Tutorials aus?
Die Reaktionen in den sozialen Netzwerken sind praktisch ausschliesslich positiv. Die Clips werden sehr oft geteilt, und die User taggen sich gegenseitig.
Verzichten Sie aktuell bewusst auf Aussenwerbung?
Die Wahl der Werbekanäle hängt von vielen Faktoren ab und wird immer wieder neu evaluiert. In der aktuellen Kampagne bewerben wir den digitalen Safer-Sex-Check. Es ist naheliegend, dass wir deshalb einen Kanal auswählen, der den User mit einem Klick zum Check führt.
Wie gehen Sie das immer gleiche Thema («schützt euch») immer wieder neu an?
Wir versuchen, aktuelle Entwicklungen, beispielsweise aus der Medizin oder in der Gesellschaft, im Auge zu haben. Daraus können wir immer wieder neue Handlungsfelder ableiten. Der Safer-Sex-Check ist so ein Beispiel. Er wurde durch wissenschaftliche Erkenntnisse notwendig und durch den digitalen Fortschritt möglich gemacht. Safer Sex ist nicht mehr für alle dasselbe, und Safer Sex verändert sich für alle von uns. Dem können wir mit dem Safer-Sex-Check gerecht werden. Präventionsarbeit muss mit gesellschaftlichen Entwicklungen Schritt halten und auch mit technologischen Hilfsmitteln die Botschaft «Schütze dich» immer wieder anders verpacken. Aber nicht zuletzt entscheidet die kreative Inszenierung darüber, ob man uns zuhört oder nicht.
Wie hat sich die Herangehensweise an die Thematik des BAG im Lauf der Jahre und Jahrzehnte verändert?
Das Credo der Kampagne ist transparente, offene und direkte Kommunikation. Diese Herangehensweise gilt seit Beginn der Kampagne und hat sich nicht geändert. Ohne moralische Färbung oder gar mit dem Finger zu drohen, sondern auf eine lustvolle, lebensbejahende Art. Das BAG spricht immer mit der gesamten Bevölkerung und nicht mit einzelnen Risikogruppen. Dadurch verhindern wir, dass sich Vorurteile aufbauen und Menschen ausgegrenzt werden.
Was wollen Sie mit der aktuellen und auch weiteren Sensibilisierungskampagnen konkret erreichen? Was müsste punkto Prävention von HIV noch besser laufen?
HIV hat durch den medizinischen Fortschritt seinen Schrecken weitgehend verloren. Dieser eigentlich erfreuliche Fakt hat dazu geführt, dass das Thema HIV bei den Menschen an Wichtigkeit verliert. Es braucht einen wiederkehrenden öffentlichen Diskurs, damit das Thema in den Köpfen der Menschen präsent ist und bleibt. Zudem werden jedes Jahr Jugendliche und junge Erwachsene sexuell aktiv. Sie sollen von Beginn weg einen verantwortungsvollen Umgang mit ihrer Gesundheit lernen und pflegen. Deshalb müssen wir mit der Kampagne immer wieder aufzeigen, wie man sich vor HIV und anderen sexuell übertragbaren Infektionen schützen kann.
Interview: Ann-Kathrin Kübler
Über das Buch:
Positiv
Aids in der Schweiz
Klappenbroschur, 144 Seiten, mit Abbildungen.
SFr. 32.00, Euro 29.00
Dieses Buch handelt vom Schlimmsten: von einer rätselhaften Seuche, die den sicheren Tod brachte. Und vom Traurigsten: vom Sterben und dem Ausschluss, den das HI-Virus bis heute bringt. Aber auch vom Besten: von Menschen, die handelten. Es erzählt von reisenden Ärzten, schwulen Aktivisten, kühnen Beamten und trickreichen Werbern. Mit ihrer mutigen Kampagne klärten sie ein ganzes Land auf. Selten waren sieben Buchstaben so eindrücklich wie «Stop Aids» mit dem Pariser. Es ist ein Buch über das Coolste, was die Schweiz hervorgebracht hat: ihren Pragmatismus.
Herausgegeben von Constantin Seibt. Mit Beiträgen von Michèle Binswanger, Carlos Hanimann, Dominik Imseng, Nadine Jürgensen, Olivia Kühni, Barbara Reye, Alexander Seibt, Gabriel Vetter, Ursula von Arx.