KI und die Zukunft des Marketings: Learnings von China

Claudia Bünte forscht und lehrt zu Künstlicher Intelligenz im Marketing. Jüngst war sie auf einer Innovationsreise in China. In ihrem Gastbeitrag schreibt sie darüber, wie China mit KI Marketing, Handel und Konsumverhalten revolutioniert – und was wir davon lernen können.

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China erwacht nicht, China überholt schon

Traditionell schaut Europa in die USA, wenn es um Innovationen geht. Aber ist das heute noch richtig? Müssten wir nicht viel eher nach China schauen? Dort erwacht kein Riese mehr, er ist schon längst auf der Überholspur, und das noch immer teilweise unbemerkt vom Westen. China holt zum Beispiel beim BIP pro Kopf auf: Während Chinas BIP pro Kopf, kaufkraftbereinigt, 2010 um den Faktor 19 höher war als 1980, stieg das BIP der USA und Deutschlands zeitgleich «nur» um den Faktor 4. Dieser Trend hält bis heute an: China «toppt» die beiden letztgenannten im kaufkraftbereinigten BIP-Wachstum um Längen: 1980 – 2017 China Faktor 34, USA Faktor 5, Deutschland Faktor 4.

Gleichzeitig sank die Grenze für extreme Armut von 42 Prozent 1997 auf 0,7 Prozent in 2017, das sind rund eine halbe Milliarde Menschen, die nicht mehr in extremer Armut leben müssen. Und China baut strategisch auf diesem Wachstum auf und investiert neben vielen anderen Bereichen massiv in Bildung und die sogenannte Neue Seidenstrasse, ein Land- und Wasserweg bis nach Europa. Von Chinas positiver wirtschaftlicher Entwicklung profitieren vielleicht nicht alle Chinesen gleichermassen, aber sie verbessert substanziell das Leben fast aller Chinesen.

Das gilt auch für Künstliche Intelligenz

Es ist absehbar, dass China auch bei Künstlicher Intelligenz in einigen Jahren führend sein wird. Vier Faktoren kommen zusammen: Bei KI gilt die Regel, dass viele Daten zu sehr guten KI-Algorithmen führen, denn KI lernt über Daten. China ist mit 1,4 Milliarden Einwohnern das bevölkerungsreichste Land der Erde, rund 800 Millionen Menschen besitzen ein Smartphone.

Darüber hinaus entwickelt sich China zu einer sogenannten mobile-only-Gesellschaft. Viele User erledigen alle Dinge des täglichen, digitalen Lebens nur über ihr Smartphone. Der dritte Faktor ist der Datenschutz. Das sogenannte Cyber-Security-Gesetz von 2017 regelt die Nutzung von Daten: Vor allem schützt es Daten vor Zugriffen anderer Länder. Einen ähnlich strengen Individualdatenschutz wie in der EU gibt es dagegen nicht. Damit können Firmen Daten von Konsumentinnen und Konsumenten zweckUNgebunden verarbeiten, also stärker vernetzen, als dies im Westen möglich ist. Hier gilt der Grundsatz der Zweckgebundenheit: Jede neue Datenanalyse muss zunächst von den Usern zweckgebunden freigegeben werden. In China reicht, vereinfacht gesagt, eine einmalige Zustimmung der User. Je mehr Daten miteinander verknüpft werden, umso mehr Erkenntnisse kann eine KI gewinnen.

Der vierte Faktor ist die explizite Ausrichtung des Staates auf KI. Es gibt einen Fünfjahresplan für KI, der alle Staats-, Bildungs- und Wirtschaftsaktivitäten darauf ausrichtet, bis spätestens 2030 weltführend bei KI zu werden. Die chinesische Staatsführung hinterlegt diesen Plan mit finanziellen und personellen Ressourcen. Durch diese vier Faktoren ist China auf einem guten Weg, in «der Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts» (Macron) weltführend zu werden.

Dies hat auch Auswirkungen auf Retail, Marketing und Vertrieb, die man heute schon beobachten kann. Es folgen ein paar Beispiele.

 

Mobile only und Superapps

In China entwickeln sich gerade sogenannte Superapps. Das sind Einzelapps, hinter denen sich ganze Ökosysteme verbergen. WeChat ist eine solche Superapp mit mehr als zwei Millionen Miniprogrammen im Hintergrund. User laden sich nur diese eine App herunter. Die weiteren Anbieter, also auch Behörden, liefern an WeChat kleine Miniprogramme ihrer Angebote aus, die User dann automatisch mit WeChat öffnen können. Miniprogramme sind nur rund 10 Megabyte gross.

Die chinesischen User können mit einer solchen Superapp ihren gesamten digitalen Alltag organisieren, also zum Beispiel mit Freunden kommunizieren, Geld überweisen, Reisen buchen, Visa beantragen, Mobilitätsangebote nutzen, Kredite erhalten und vieles mehr. Der Vorteil für User: Man muss nicht verschiedene Apps für verschiedene Anwendungen herunterladen und die Nutzerdaten jedes Mal eingeben – die Nutzung einer Superapp ist also sehr bequem. Der Vorteil für die teilnehmenden Firmen: Eine lückenlose Customer Journey, in der User weniger abspringen, weil sie die Systeme nicht verlassen müssen und Userdaten nahtloser in einem einzigen, abgeschlossenen System übertragen und verknüpft werden können.

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Typische Online-Customer-Journey in Europa und in China. (Abbildung: Bünte)

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WeChat-Funktionen (Quelle: Fabernovel, 2019)

 

Cashless Society 

China entwickelt sich gerade zu einer bargeldlosen Gesellschaft. Bezahlt wird in aller Regel über das Smartphone mit QR-Codes der gängigen Bezahlapps wie WeChat Pay oder AliPay – oder über Gesichtserkennung wie zum Beispiel im Supermarkt Hema/Fresh Hippo (siehe Bild unten). Auch das ist für User sehr bequem und setzt sich immer mehr durch.

Aber auch aus Anbietersicht ist das von Vorteil: Dadurch, dass die Superapps nicht nur Bewegungs- und Surfdaten über die Smartphones ihrer Userinnen und User haben, sondern auch wissen, was sie wann wo gekauft haben, entsteht eine vollständige Customer Journey mit unzähligen, qualifizierten Daten für Künstliche Intelligenz, um zu lernen und passendere Angebote für individuelle Konsumentinnen und Konsumenten zu entwickeln. Im Westen ist diese individuelle Ausspielung von passgenau auf eine Person ausgearbeiteten Angeboten aus Datenschutzgründen um einiges schwieriger.

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Bezahlen per Gesichtserkennung im Supermarkt (Foto: Bünte).

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Bargeldloses Spenden für Obdachlose (Foto: Twitter@occupiedstill)

 

New Retail

Der Handel verändert sich gerade sehr stark. Während im Westen vielfach noch neue digitale Angebote über Einzelapps angeboten werden, ist China einen Schritt weiter. Handels-Plattformen wie zum Beispiel Alibaba oder JD verbinden zunehmend die Online- mit der Offlinewelt, kurz «OmO», also «Online merge Offline» genannt. Online- und Offline-Angebote sind gleichermassen verfügbar.

Dazu zwei Beispiele: Die Supermarktkette Hema/Fresh Hippo bietet ein Einkaufserlebnis an, das auch im Supermarkt selbst viele Online-Anwendungen nutzt. So kann man beispielsweise mit dem Smartphone im Laden die Ware über einen QR-Code scannen, um zu erfahren, wo genau zum Beispiel der jeweilige Taschenkrebs gefangen wurde und wie die Lieferkette aussieht. Dazu bekommt man Nährstofftabellen, Rezepte und weitere Angebote rund um diese Ware. Bezahlt wird über eine Bezahlapp oder über Gesichtserkennung.

Hat man keine Lust, die Ware selbst aus den Regalen in den Einkaufswagen zu legen, zu bezahlen und später nach Hause zu fahren, sammelt man die gescannten QR-Codes in der App und bezahlt elektronisch. Angestellte von Hema stellen dann diese Bestellung im Laden zusammen und ein hauseigener Fahrservice liefert innerhalb von 30 Minuten im Radius von 3 km um den Supermarkt die Ware bis an die Haustür. Ist man nicht zuhause, legt der Lieferservice den Einkauf in die zur Wohnung gehörende Lieferbox, die so ähnlich aussehen wie die Packstationen von DHL in Deutschland. Diese gibt es in vielen Städten in China direkt am oder hinter dem Haus. Hat man keine Lust, überhaupt in den Supermarkt zu gehen, bestellt man gleich über die App.

Die Restaurantkette Haidilao bietet Hot-Pot-Gerichte an, die Gäste selbst zubereiten können. Dazu bestellen sie entweder persönlich bei einer Servicekraft oder per QR-Code, den sie an ihrem Tisch finden, die Zutaten. Die bestellten Gerichte werden in der Küche von KI-unterstützten Robotern zusammengestellt und auf Tabletts gelegt. Sechs Serviceroboter bringen die Bestellungen an den Tisch. Stellt sich ein Mensch in den Weg, bittet der Roboter freundlich darum, vorbeigelassen zu werden. Noch sind längst nicht alle Restaurants mit Servicerobotern ausgestattet, wohl aber nahezu alle Restaurants mit QR-Codes zum Bestellen und Bezahlen.

Diese neue Art im Retail wird «New Retail» oder «Smart Retail» genannt. Neu daran ist, dass nicht nur das Marketing oder einige Backoffice-Bereiche digitalisiert sind, sondern dass die gesamte Wertschöpfungskette inklusive der Läden digitalisiert werden. Sowohl Alibaba als auch JD bieten kleinen Händlern an, sie bei dieser Digitalisierung zu unterstützen. Das ist das «neu» in New Retail.

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Lieferketteninfos im Supermarkt. (Foto: Bünte)

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Roboterkellner im Restaurant Haidilao in Peking (Foto: Bünte)

 

Die Auswirkungen auf das Marketing der Zukunft sind vielfältig und schnell

Man könnte sagen, dass in China goldene Zeiten im Marketing, Vertrieb und in der Werbung anbrechen: Man weiss als Marketer zu jeder Zeit in Echtzeit, was welcher Konsument gerade tut, mag, nicht möchte, wo er oder sie sich befindet, mit wem er oder sie zusammen unterwegs ist, wieviel Geld für einen Kauf zur Verfügung steht, und, und, und. Damit hat man Zugriff auf eine lückenlose Customer Journey, die Konsumentinnen und Konsumenten kaum verlassen müssen und auch nicht wollen.

Der Datenschutz erlaubt das Verknüpfen von Daten, Künstliche Intelligenz unterstützt bei der Analyse der Daten und der Ableitung von Angeboten. Damit kann ein Marketer den Konsumentinnen und Konsumenten in Echtzeit individuelle, passgenaue, personalisierte Angebote machen – man arbeitet damit im Grund nicht mehr in Gruppensegmenten, sondern mit Millionen «Segments of One». Das ist nichts anderes als ein neues Marketing mit Daten als Treibstoff und KI als Motor.

Darin liegen aber auch drei neue Herausforderungen für dieses New Marketing: Hervorragende digitale Fähigkeiten der Marke basierend auf KI, hohe Reaktionsgeschwindigkeit und immer neue Inhalte, um interessant und damit relevant zu bleiben.

Da alle Marken dieselben Systeme nutzen, um zu verkaufen, zum Beispiel über Alibaba oder JD, haben sie auch dieselben Daten zur Verfügung. Die Marken sind also nur so gut wie ihre Teams, wenn es darum geht, mit Daten umzugehen, und wie die KI, die sie unterhalten, um diese Daten zu analysieren.

Ausserdem gewöhnen sich Konsumentinnen und Konsumenten sehr schnell an die neuen, individuell an ihre Wünsche angepassten Angebote. Wer als Marke nicht unmittelbar, das heisst in Echtzeit liefert, wird schnell verschwinden. Und da alle Konkurrenten auch in Echtzeit liefern, sind Konsumentinnen und Konsumenten leicht mit zu vielen Angeboten überfordert. Daher wird das Marketing der Zukunft viel stärker über ständig wechselnde Inhalte kommen müssen, um interessant und damit relevant zu bleiben.

 

Fazit

Nicht alles, was in China im Marketing, Handel und Vertrieb durch Daten und KI entsteht, ist direkt auf Europa übertragbar. Das liegt schon allein an den unterschiedlichen Datenschutzgesetzen. Wir sollten aber nicht den Fehler machen, davon auszugehen, dass die KI-Entwicklung in China uns nie betreffen wird. Wenn der Grundsatz der KI gilt, dass die Algorithmen und damit Angebote besser werden, je mehr Daten man verknüpft, dann wird China deutlich vor den USA und Europa bei der Entwicklung von KI liegen. Und später mit KI-basierten Marken und Angeboten locken, die auch für europäische Kundinnen und Kunden interessant sind.

Wir müssen und wir sollten also auch von China lernen. Denn dort entwickelt sich, neben vielen anderen Bereichen, durch KI das Marketing der Zukunft – Ein «New Marketing».

* Claudia Bünte ist eine internationale Marketing- und Branding-Expertin. Sie hatte eine Reihe von Führungspositionen bei globalen Unternehmen auf der ganzen Welt inne: Associate Principal bei McKinsey & Company, Global Vice President of Brand and Marketing Strategy bei Volkswagen, Director of Knowledge and Insights Europe und Director of Strategy and Planning für Deutschland und drei weitere Märkte bei The Coca-Cola Company. Weitere Aufgaben umfassten die Zusammenarbeit mit Marken wie Nivea, Apple und Siemens. In China leitete sie unter anderem ein Projekt zur Einführung von Prestige-Automarken.

Dieser Artikel wird im Rahmen einer Medienpartnerschaft zwischen aiZürich und werbewoche.ch veröffentlicht. Passend dazu findet am 26.3.2020 die «AI for Business»-Konferenz in Zürich statt. Expertenwissen rund um das Thema Artificial Intelligence, spannede Inputs und die Möglichkeit zum Netzwerken mit führenden Köpfen der Branche – wer das erleben will, findet hier alle Infos und Tickets: www.ai-zurich.ch

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