Zaubermittel Marketing- und Sales-Funnel?

«Website war gestern. Heute ist Funnel.» So versuchen aktuell manche Online-Marketing-Berater sogenannte Marketing- und Sales-Funnels als innovative Zaubermittel zu vermarkten. Dabei sind diese ein alter Hut.

Marketing-Sales-Funnel

Um das Thema Marketing- und Sales-Funnel machen aktuell einige Online-Marketer ein ebenso grosses «Bohai» wie in den zurückliegenden Jahren zunächst um die Themen Blogs, dann Guerilla-Marketing, dann Social Media, dann Videos, dann Content-Marketing, dann Landingpages und so weiter. Und wie die vorgenannten Themen, versuchen sie auch dieses als das Zaubermittel beziehungsweise «Non-plus-Ultra» im Marketing und Vertrieb zu verkaufen. 

Dabei sind «Sales-Funnel» beziehungsweise «Marketing-Funnel» ein alter Hut, den jeder Vertriebler unter dem Namen «Vertriebs-» oder «Verkaufstrichter» kennt und der letztlich das Massnahmen-Bündel bezeichnet, mit dem eine Organisation oder ein Verkäufer zunächst die Aufmerksamkeit und das Interesse der Zielkunden weckt und diese dann Schritt für Schritt zur Kaufentscheidung führt.

Das Wort «Funnel» klingt aber chicer oder moderner als das Wort «Trichter» – und lässt sich somit auch besser vermarkten.

 

Die AIDA-Formel: Basis aller Sales- und Marketing-Funnel

Jedem Vertriebs- und Verkaufstrichter – beziehungsweise Funnel – liegt letztlich die altbekannte AIDA-Formel für den Verkauf von insbesondere komplexen, erklärungsbedürftigen Produkten und Dienstleistungen zugrunde, die keine sogenannten «Schnelldreher» sind – also Produkte, die ein potenzieller Kunde mal eben so schnell und spontan wie eine Kugel Eis im Sommer kauft, weil er gerade Lust darauf hat.

Der AIDA-Formel zufolge durchläuft jeder Kunde, bevor er ein Produkt kauft, mehrere Stufen der Kaufentscheidung.

  • Stufe 1: Attention (Aufmerksamkeit)
  • Stufe 2: Interest (Interesse)
  • Stufe 3: Desire (Kauf-Wunsch)
  • Stufe 4: Action (Kauf-Aktion)
AIDA-Formel

Jeder Anbieter soll dafür sorgen, dass der (potenzielle) Kunde diesen Prozess durchläuft.

 

Das System ist entscheidend, nicht die Massnahme

Denn es nutzt zum Beispiel dem Besitzer eines Ladengeschäfts wenig, wenn dieses zwar viele Besucher, sogenannte «Schaukunden», aber kaum «Kaufkunden» hat – zum Beispiel, weil das Geschäft die falschen Produkte anbietet oder diese schlecht präsentiert. Am Abend ist seine Kasse leer. 

Ebenso wenig nutzt es jedoch einem Ladenbesitzer, wenn er in seinem Geschäft eine Top-Ware für seine Zielkunden anbietet und diese 1A-präsentiert, es ihm aber nicht gelingt, ausreichend Interessenten hierfür in seinen Laden zu ziehen. Dann stehen er und seine Mitarbeiter allein im Laden, und am Abend ist die Kasse ebenfalls leer – weil das Gesamtsystem nicht stimmt.

 

Auch Websites brauchen eine zielführende Struktur

Ähnlich verhält es sich mit Websites. Es nutzt Freiberuflichen oder Selbstständigen wenig, wenn ihre Website zwar viele Besucher hat, weil sie gut im Netz gefunden und somit hohe Aufmerksamkeit generiert wird, diese jedoch rasch wieder verschwinden, weil die Inhalte der Website weder ihr Interesse noch einen Kauf-Wunsch geweckt haben. 

Umgekehrt nutzt es einem Selbständigen jedoch auch wenig, wenn die Produkte auf seiner Website für seine Zielkunden zwar hochinteressant wären, diese aber kaum Besucher hat – zum Beispiel, weil sie bei der Suche im Netz nicht gefunden wird. In beiden Fällen generiert der Anbieter – zumindest über seine Website – keine Anfragen und Aufträge. Das heisst, er ist erfolglos.

Also sollte sich jeder Freiberufler und Selbstständige, wie alle anderen Unternehmer, überlegen, wie er seine Kunden Schritt für Schritt zur Kaufentscheidung führt. Oder anders formuliert: Er sollte eine Marketing- und Vertriebsstrategie für seine Unternehmung entwerfen, die seine verschiedenen Off- und Online-Marketing- und -Vertriebsaktivitäten zu einem zielführenden System zusammenbindet. Diese fehlt nämlich vielen.

 

Viele Online-Marketer sind keine Lösungsverkäufer

Soweit so gut. Was aber am aktuellen Sales-Funnel-Geschwätz nervt, ist, dass die Online-Marketer den Selbstständigen dreierlei suggerieren.

  1. Marketing- und Sales-Funnel seien der neuste Schrei. Nein, sie sind ein alter Hut. Das einzige, was neu ist: Einige Online-Marketer haben endlich auch entdeckt, dass neben der Website auch die sonstigen (Online-)Marketing-Aktivitäten ihrer Kunden kein Selbstzweck sind, sondern eine (Teil-)Funktion in deren Marketing- und Vertriebssystem erfüllen müssen.
  2. Die Selbstständigen müssten in ihre Website einen extra Marketing- und Sales-Funnel integrieren. Dabei ist jede Website, die letztlich nicht wie ein Marketing- und Verkaufstrichter funktioniert – also die Zielkunden in ihrem Kaufentscheidungsprozess zwei, drei Schrittchen weiterführt –, schlicht falsch konzipiert.
  3. Wenn Selbstständige in ihre Website und in ihr Online-Marketing einen Sales-Funnel integrieren, dann generieren sie automatisch Aufträge. Die Aufträge fliegen ihnen dann sozusagen wie gebratene Täubchen in den Mund.

 

Komplexe Leistungen lassen sich fast nie online verkaufen

Letzteres ist Quatsch beziehungsweise ein reines Wunschdenken, denn dies ist nur bei Produkten oder Dienstleistungen möglich, die mindestens eine der folgenden Bedingungen erfüllen.

  1. Die bestellten Waren können jederzeit zurückgegeben werden, wie zum Beispiel die Schuhe bei Zalando. Das ist bei den Leistungen solcher Freiberufler wie Unternehmensberatern, Rechtanwälten oder Architekten sowie Selbstständigen wie Handwerkern nie der Fall.
  2. Sie sind aus Kundensicht billig beziehungsweise extrem preiswert, so dass der Kunde denkt «Macht nichts, wenn ich die drei, vier Euro in den Wind schreiben muss», und ihr Besitz hat für die Kunden keine Relevanz, so dass sie denken: «Schadet nichts, wenn ich einen Fehlkauf tätige». Beides ist bei vorgenannten Leistungen – die aus Kundensicht meist teuer sind und mit denen die Kunden oft ein akutes Problem lösen möchten – ebenfalls fast nie der Fall.

 

Der Verkauf erfolgt im persönlichen Kontakt

Deshalb lässt sich für die meisten komplexen sowie erklärungsbedürftigen Produkte und Dienstleistungen, geht man von den AIDA-Stufen der Kaufentscheidung aus, mit der Website und den Online-Marketing-Aktivitäten maximal das Interesse der Zielkunden wecken. Gelingt dies, dann kontaktieren sie den Anbieter. Und danach beginnt erst der eigentliche Verkauf und zwar im Dialog zwischen dem Anbieter und seinem potenziellen Kunden. 

Dass sich via Marketing- und Sales-Funnel keine komplexen Produkte und Dienstleistungen verkaufen lassen, ist anscheinend auch den meisten Marketing- und Sales-Funnel-«Spezialisten» unter den Online-Marketern bewusst. Liest man nämlich ihre Werbetexte genauer, dann merkt man rasch: Letztlich geht es eigentlich stets nur um das Thema Marketing und nicht um das Thema Verkauf oder Vertrieb. 

 

Viele Funnel sind reine Marketing-Funnel

Viele der von ihnen konzipierten Marketing- und Sales-Funnel zielen auch nur darauf ab, dass potenzielle Kunden zum Beispiel einen Newsletter abonnieren. Und die Zahl der neuen gewonnenen Abonnenten? Sie wird als Beleg für das Funktionieren des Marketing- und Sales-Funnel verkauft.

Die hinzugewonnene Zahl von Newsletter-Abonnenten oder die gestiegene Follower-Zahl auf Social Media mag ja erfreulich sein. Doch verkauft hat der Selbstständige deshalb noch nichts. Er hat nur mehr «Schaukunden», die meist nichts kaufen und die er jedoch fortan regelmässig beglücken und bespassen muss.

* Bernhard Kuntz ist Berater bei der (Online-)Marketing-Agentur «Die PRofilBerater».

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