Klischees à discrétion

Aufgefallen Grosse Fische schwimmen häufig gegen den Strom, in der Politik wie auf Redaktionen. Ein Plädoyer für mehr journalistischen Eigensinn.

Kolumne Grosse Fische schwimmen häufig gegen den Strom, in der Politik wie auf Redaktionen. Ein Plädoyer für mehr journalistischen Eigensinn.Sind Sie ein Opportunist, Mbwana? Bravo, diese Haltung ist in vielen, fast allen Berufen sehr sinnvoll. Es ist kaum ratsam, wenn die Herde blökend in die eine Richtung stürmt, sich in die andere abzusetzen. Denn wehe, wenn die Herde Recht hatte! Und noch mehr wehe, wenn Sie Recht hatten!Es gibt jedoch Spezialfälle: Journalismus ist ein solcher. In Branchen, deren Produkt Aufmerksamkeit heisst, lohnt es sich, allein zu heulen: Ihr Licht leuchtet auf freiem Feld heller als in der Grossstadt. Selbstverständlich klauen auch Sie – wie alle anderen – die meisten Ideen aus Konkurrenzprodukten: Journalismus lebt wie PET-Flaschen auch vom Recycling; Papier zeugt Papier. Nur: Stehlen Sie nie, um zu kopieren! Sondern, um genau das Gegenteil zu tun. Anbei einige Rezepte.
Bei Hype sagen Sie: Hype! Von neuen Sexpraktiken über den Brunner-, Metzler- oder Leuthard-Effekt bis zum Manager des Monats: Woche um Woche werden frische Trends und Sieger ausgerufen. Aber nicht von Ihnen. Es lohnt sich, gelassen zu bleiben und genau hinzusehen: auf Zahlen, Fakten, Details. Das Resultat: Der Kaiser ist meistens halb nackt. Ist der Kaiser genügend prominent und Sie genügend allein, haben Sie sich einen Namen gemacht: Sie heissen dann Hansjörg Abt (Kaiser Rey) oder Sepp Moser (Kaiser Swissair).
Bei Hatz sagen Sie: Halt! Wird einmal wieder eine neue arme Sau (etwa der geschass-te Manager des Monats) durchs Dorf gehetzt, sieht Ihre Taktik umgekehrt aus: Sie erklären, warum der Verfolgte nicht die Krankheit, sondern bloss Symptom einer viel grösseren Krankheit ist.
Fordern Sie nie Köpfe, sondern zeigen Sie immer, welche Ideen und Umstände zu Aufstieg und Untergang geführt haben. Gerechte Richter werden vom Publikum immer respektiert, Staatsanwälte nie.
Schreiben Sie gegen verbürgte Vorurteile. Gutmenschige Sozialarbeiter? Die meisten, die ich kenne, sind patent, unsentimental und machen ihren Job mit trockenem Witz. Ebenso gibt es weit mehr naive als korrupte Politiker. Und die Berufskrankheit der meisten Journalisten ist weniger Neugier als Autismus. (Test: Wie viele Journalisten kennen Sie, die privat etwas fragen?) Gegen Klischees anzuschreiben – natürlich stilvoll, ohne die Absicht je zu erwähnen –, gibt den Artikeln dieses realistische Prickeln.
Was tun, wenn das letzte Kapitel einer Geschichte geschrieben scheint? Oft, wenn der letzte Vorhang eines langen Dramas fällt – etwa bei Rücktritt, Konkurs, Untersuchungsbericht oder Tod – stottern die Medien erschöpft. Dabei ist nur eine abgeschlossene Story eine gute Story. Sie lässt sich endlich als Ganzes erzählen: Wie alles begann, was man damals vermutete – und wie es herauskam.
Nichts Neues, zugegeben. News-Profis gähnen, aber Leser nicht. Menschen lieben abgeschlossene Erzählungen (wohl in der irrigen Hoffnung, etwas zu lernen). Wenig wird so gierig gelesen wie Nachrufe.
Abgefeimtheit gilt unter Medienprofis als Tugend, Verblüffung als Untugend. Dabei entstehen die besten Storys dort, wo Sie durch etwas überrascht werden: Etwa damals, mitten in der Borer-Affäre, als die WOZ feststellte, dass der Blick a) brillant gemacht ist und b) entgegen seinem Ruf links steht. Oder als Facts konstatierte, dass allem rhetorischen Individualismus zum Trotz die kollektive Disziplin zunimmt: vom Rauchen über die Erziehung bis zu den Gesetzen. Der Lohn solcher Artikel: Sie werden so oft zitiert, dass ihre Grunderkenntnis schon Wochen später banal klingt. Doch damit ist Journalismus am einflussreichsten: das Offensichtliche, bislang aber Ungesehene, zum ersten Mal zu benennen.
So weit einige Rezepte, garantiert gelingend wie bei Dr. Oettker. Auch wenn Heldengeschichten sicher viel dramatischer klingen: Wirklich clevere Opportunisten, Mbwana, sind Anti-Opportunisten.
> Constantin Seibt ist Redaktor der Wochenzeitung (WOZ).

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