Virtuelle Grabsteine, reale Gewinne

Rubriken Todesanzeigen waren fürs Zeitungsmarketing bislang tabu. Konjunkturkrise und Internet rütteln daran.

Rubriken Todesanzeigen waren fürs Zeitungsmarketing bislang tabu. Konjunkturkrise und Internet rütteln daran.Die Idee hatte Riccarda Mecklenburg während ihrer Zeit bei der Aargauer Zeitung. Als es dort einmal Probleme mit der Ferienumleitung gab und einige Abonnenten ihr Blatt erst mit dreitägiger Verspätung erhielten, brach ein Sturm der Entrüstung los. Der Hauptgrund: Die temporären Exilaargauer wollten möglichst schnell wissen, wer in ihrem Heimatkanton unter welchen Umständen das Zeitliche gesegnet hatte.Mecklenburg schloss daraus, dass «der Tod eines Menschen weitere Kreise interessiert, als eine Regionalzeitung physisch abdecken kann». Als Verlagsleiterin des Fricktaler Boten setzt sie diese Erkenntnis nun um und bietet Hinterbliebenen die digitale Aufbereitung und Verbreitung ihrer Todesanzeigen an. Diese sehen exakt so aus wie die papiernen Originale, können aber auch von Heimweh-Fricktalern ohne Boten-Abo betrachtet werden. Laut Mecklenburg generiert das überhaupt erst seit seinem Relaunch Ende August im Internet präsente Lokalblatt mit dem neuen Angebot momentan «mehr Umsatz als mit Bannerwerbung».
Weshalb der 50 Extrafranken kostende Fricktaler Online-Service bald weiter ausgebaut werden soll, etwa durch mit der Todesanzeige verlinkbare Danksagungen und Nekrologe. Vorbildfunktion könnte dabei die in Internet- und Marketingfragen seit jeher unorthodoxe Jungfrau Zeitung haben. Deren elektronische Grabsteine firmieren auf der Homepage unter «Unsere Verstorbenen» und sollen so signalisieren, dass sie der Leserbindung
respektive der (Kirch-)Gemeindebildung und nicht dem schnöden Mammon dienen.
Ausbau zu «Trauer-Dossiers»
«Wer in der Jungfrau Zeitung Todesanzeigen schaltet, bekommt dazu gratis und franko einen Platz auf unserem virtuellen Friedhof», versichert deren Verleger Urs Gossweiler. Für seine stark Web-basierte Zeitung bedeute die Erstellung solcher «Trauer-Dossiers» mit Bild, Lebenslauf, Todesanzeige und Danksagung nämlich kaum Mehraufwand. Schweizweit einzigartig dürfte das mittlerweile bis ins Jahr 2000 zurückreichende Verstorbenenarchiv des Lokalblatts aus dem Berner Oberland sein. Erklärtes Ziel von Gossweiler ist die Schaffung eines digitalen Ortes, auf dem die Toten statt der real üblichen 25 mindestens 50 Jahre ruhen können.
Konservativere Regionalverlage beobachten die Bewirtschaftung des Tabubereichs Tod mit einer Mischung aus Skepsis und Neugier. Schliesslich hat diese wohl älteste aller Rubriken nicht nur erfahrungsgemäss höchste Aufmerksamkeitswerte, sondern ist auch relativ unempfindlich gegenüber Konjunkturschwankungen. Erstere belegen zudem den immensen Leserbindungseffekt der schwarz umrandeten Inserategattung. Gerade private Todesanzeigen sind der wohl ultimative Vertrauensbeweis fürs Leibblatt und ein entsprechend sicheres Indiz für dessen lokale Verankerung.
Gradmesser der Verankerung
Das weiss auch der Geschäftsführer der Zuger Presse, Florian Hofer. Und hat entsprechend ein Problem damit, dass in seinem Blatt kaum öffentlich getrauert wird. Um diesen Rückstand auf die lokale Konkurrenz aufzuholen, müsse man «mehr emotionale Nähe zu den Zugerinnen und Zugern aufbauen» – und zwar über die tägliche Berichterstattung und nicht via Internet. Zwar hat die Zuger Presse vor einiger Zeit die Online-Software der Jungfrau Zeitung übernommen; deren virtuellen Friedhof hält Hofer jedoch für «makaber bis pietätslos» und keinesfalls nachahmenswert.
Auch der Zürcher Oberländer wehrt ab. Sollten die übrigen Rubrikenmärkte (noch) weiter schrumpfen, will Verlagsleiter Konrad Müller allerdings «nochmals über die Bücher gehen». Die rund drei Prozent, welche die Todesanzeigen zum Gesamtumsatz beisteuern, seien schliesslich «nöd nüt». Darin nicht enthalten sind notabene die jährlich 300000 Franken, welche Müller – wie manch anderer Regionalverleger – allein mit dem Druck und Vertrieb von Leidzirkularen generiert.
Morbides Anzeigenumfeld?
Höchst unterschiedlich ist nicht der jeweilige Anteil dieses Inseratetypus am Anzeigenertrag, sondern auch die Höhe des Rabatts, den Verlage in diesem sensiblen Bereich traditionell gewähren. Während bei überregionalen Zeitungen wie Tages-Anzeiger oder NZZ 40-prozentige Preisnachlässe üblich sind, liegen diese in der Provinz in der Regel etwas tiefer, beim Oberländer etwa bei 30 Prozent. Die Schaffhauser Nachrichten diskontieren gar nur 15 Prozent von ihrem Standard-Millimeterpreis. Und dies auch nur, weil Todesanzeigen seit letztem Jahr nur mehr im fünfspaltigen Einheitsformat angenommen und gedruckt werden. «Da in diesem Umfeld niemand mehr kommerzielle Anzeigen schalten will, müssen wir damit unsere fünfspaltigen Seiten ganz füllen», begründet Marketingleiter Stefan Wabel die Schaffung dieses internen Standards.
Dass Inserenten die papiernen Friedhöfe meiden wie der Teufel das Weihwasser, gehört zu den Paradoxien dieses wohl nicht nur bei der älteren Generation aufmerksamkeitsstärksten Rubrikgenres. Kaum Berührungsängste herrschen diesbezüglich hingegen im Internet. So wird, wer seinen Verstorbenen via Fricktaler Boten virtuelle Besuche abstattet, zugleich von Miele und Mitsubishi umworben. Und beim Online-Dienst mortalino.ch fragt ein Banner der Zürcher Kantonalbank gar (mit vermutlich unfreiwilliger Tragikomik) «Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?»
Das rein werbefinanzierte Todesfall-Portal Mortalino bietet übrigens nebst vielen praktischen Tipps rund ums gesellschaftliche Tabuthema Nummer eins auch einen Kostenkalkulator zur Berechnung von Todesanzeigen. Wer weiss, vielleicht rundet bald schon ein eigener virtueller Friedhof die Angebotspalette ab. Nach Car4you und Homegate könnte dann auch dieser findige Sterbedienstleister zum Übernahmekandidaten für Tamedia (oder einen anderen Grossverlag) avancieren …
Friedlich vereint: Im Gegensatz zu Zeitungen wird im Internet im Umfeld von Todesanzeigen munter geworben.
Ein 100-Millionen-Franken-MarktMenschlich-Allzumenschliches wie Lust und Trauer werden statistisch ebenso tabuisiert wie gesellschaftlich. Über die quantitative Entwicklung der Todesanzeigen existieren – wie für den Bereich Erotik- und Kontaktinserate – jedenfalls keine offiziellen Angaben. Im Advertising Index Switzerland der Wemf etwa wird lediglich der prozentuale Anteil des gesamten Rubrikengeschäfts am Pressewerbevolumen erfasst. Dieser ist zwischen Januar und Juli 2004 im Vergleich zur Vorjahresperiode schweizweit um weitere 1,1 auf nunmehr 28,4 Prozent gesunken.
Die Grafik zeigt, dass dies kaum am vergleichsweise konjunkturresistenten
Todesanzeigenmarkt liegt. So nahmen die Todesfälle in der Schweiz während der letzten 40 Jahre kontinuierlich zu, haben aber trotz der wachsenden Überalterung unserer Bevölkerung allmählich den Plafond erreicht. Selbiges dürfte laut Otto Meier auch für deren Annoncierung respektive die damit generierten Umsätze gelten. Der Publicitas-Generaldirektor schätzt das Printgeschäft mit Todesanzeigen, Nekrologen und Danksagungen derzeit auf «jährlich gut 100 Millionen Franken». (oc)
Oliver Classen

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