Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist

Marktforschung Wer bei Zielgruppenbestimmung an Einkommen, Bildung oder Konsumverhalten dachte, muss umlernen: «Weiche» Kriterien wie soziales Umfeld oder ästhetische Vorlieben erlauben feine Zielgruppensegmentierungen. Eine entsprechende Methode wird im Herbst in der Schweiz auf Initiative von Publisuisse eingeführt.

Marktforschung Wer bei Zielgruppenbestimmung an Einkommen, Bildung oder Konsumverhalten dachte, muss umlernen: «Weiche» Kriterien wie soziales Umfeld oder ästhetische Vorlieben erlauben feine Zielgruppensegmentierungen. Eine entsprechende Methode wird im Herbst in der Schweiz auf Initiative von Publisuisse eingeführt.Man stelle sich vor: Zwei Männer, beide 1948 geboren und in Grossbritannien aufgewachsen, beide verheiratet und mit inzwischen fast erwachsenen Kindern, beide beruflich erfolgreich und sehr vermögend, beide leben nicht mehr mit ihren Frauen zusammen und verbringen ihre Ferien vorzugsweise im Alpenraum – und ihre Gesichter sind weltbekannt: Es handelt sich um den Hardrocker Ozzy Osbourne und den Blaublüter Prinz Charles. Sie sind so genannte «soziodemografische Zwillinge» und sollten sich als Konsumenten entsprechend gleich verhalten. Die Chance, dass Ozzy Osbourne und Prinz Charles das tun, ist jedoch mehr als gering. Sie pflegen Lebensstile und Vorlieben, die unterschiedlicher kaum sein könnten.Das Beispiel zeigt, dass die Bestimmung von Zielgruppen nach herkömmlichen Merkmalen ihre Tücken haben kann. Auch wenn es inzwischen viele Segmentierungsmöglichkeiten gibt: Märkte können nach geografischen, demografischen, soziodemografischen oder psychografischen Kriterien aufgeteilt werden. Neuere Ansätze verwenden auch verhaltens- oder nutzenbezogene Kriterien wie zum Beispiel das Konsum- oder Informationsverhalten der Kunden. Und auch die Kombination soziodemografischer und psychografischer Kriterien zu verschiedenen Lifestyle-Typologien ist üblich.
Um praxistauglich zu sein, haben die Segmentierungskriterien verschiedene Anforderungen zu erfüllen. Zunächst müssen sie messbar sein. Ausserdem müssen die Kriterien, die zur Messung herangezogen werden, qualitative Erklärungskraft in Bezug auf das Kaufverhalten haben. Darüber hinaus sollten die identifizierten Segmente klar adressierbar sein und eine gewisse zeitliche Stabilität aufweisen. Schliesslich beeinflusst die Art und Weise, wie ein Unternehmen seinen Zielmarkt segmentiert, die Mittelverteilung und damit die zukünftige Entwicklung des Unternehmens. Es ist also sinnvoll, sich bei der Segmentierung stets auch die Entwicklung der nächsten drei bis fünf Jahre vor Augen zu halten. Und letztlich müssen die gefundenen Segmente gross genug sein, um eine wirtschaftlich rentable Bearbeitung zu erlauben.
Begrenzte Aussagekraft Viele Segmentierungsmethoden werden den genannten Anforderungen nur ungenügend gerecht. Denn die verwendeten soziodemografischen Merkmale reichen selten aus, um Vielfalt und Individualität der Konsumenten, ihre Vorlieben und Bedürfnisse genau zu beschreiben.
In Sachen Kaufverhaltensrelevanz stösst die Soziodemografie an ihre Grenzen. Tatsächlich können sich selbst so genannte «soziodemografischen Zwillinge» – wie im Beispiel erwähnt – manchmal stark voneinander unterscheiden.
Formale Gemeinsamkeiten und sogar eine vergleichbare soziale Lage können durchaus mit ganz unterschiedlichen Lebensstilen und Werthaltungen verbunden sein. Konsum und Markenpräferenz werden eben von anderen Dingen bestimmt als der Soziodemografie. Punktuelle Betrachtungen einzelner Merkmale wie Schulbildung, Alter oder Gehaltsklasse führen nur allzu häufig zu Fehlschlüssen und damit auch zu Fehlinvestitionen des Marketingbudgets. Um zu einer realistischen Segmentierung zu gelangen, die auch für das tatsächliche Kaufverhalten Relevanz besitzt, müssen auch Alltag und soziales Umfeld des Konsumenten in die Betrachtung einbezogen werden. Denn diese Faktoren bestimmen seine Lebensweise.
Während die Aussagekraft herkömmlicher Zielgruppendefinitionen sehr beschränkt ist, lässt sich der prognostische Horizont einer Segmentierung durch den Einbezug von Lebensstilen und ästhetischen Vorlieben der Konsumenten erheblich erweitern. Hier setzt die Segmentierungsmethode der Sinus-Milieus von Sinus Sociovision an.
Alltagsnahe ZielgruppenDie Zielgruppenbestimmung mit dieser Methode beruht auf der Lebensweltanalyse moderner Gesellschaften. Der Begriff «Lebenswelt» enthält verschiedene Erlebnisbereiche im Alltag eines Konsumenten. Er umfasst die Bereiche Arbeit, Familie, Freizeit, Konsum und Medien. Die Methode geht davon aus, dass jeder einzelne Bereich einen massgeblichen Beitrag zur Entwicklung und Veränderung von Einstellungen, Verhaltensmustern und Werthaltungen leistet. Auch Alltagsvorstellungen, Wünsche, Ängste und Zukunftserwartungen werden erfasst.
Die Sinus-Milieus fassen Gruppen von Gleichgesinnten zusammen, die bezüglich Lebensauffassung und Lebensweise übereinstimmen. Ergebnis der Sinus-Lebensweltforschung ist die Abgrenzung und Beschreibung sozialer Milieus und ihrer jeweiligen Marktpotenziale. Diese Segmentierung lässt sich in den unterschiedlichsten Märkten anwenden. Die Sinus-Milieus sind lebensnahe Zielgruppen mit relativ hoher Beschreibungs- und Prognosekraft, weil sie direkt aus dem Alltag der befragten Personen abgeleitet werden. Regelmässige Modell-Updates garantieren darüber hinaus, dass langfristige Veränderungen in der Alltagsrealität in der Milieustruktur ihren Niederschlag finden.
Die nach umfangreichen qualitativen Interviews und repräsentativen quantitativen Erhebungen identifizierten Milieus werden auf einer «strategischen Landkarte» eingezeichnet, die durch die zwei Dimensionen «soziale Lage» (y-Achse) und «Grundorientierung» (x-Achse) bestimmt wird. Zur besseren Orientierung ist jede Achse nochmals in drei Abschnitte unterteilt.
Für die Einordnung der Milieus gilt grundsätzlich: Je höher das
Milieu auf der y-Achse (soziale Lage) angeordnet ist, desto gehobener sind Bildung, Einkommen und Berufsgruppe. Für die Einordnung auf der x-Achse gilt: Je weiter nach rechts es sich erstreckt, desto moderner ist das Milieu in seiner Grundorientierung eingestellt. Dabei liegt es in der Natur der Dinge, dass die Grenzen zwischen den Milieus fliessend sind. Lebenswelten können nun einmal nicht so exakt und überschneidungsfrei voneinander getrennt werden wie Gruppen, die auf Grund rein soziodemografischer Kriterien gebildet werden.
Noch wesentlich greifbarer als auf der strategischen Landkarte werden die Sinus-Milieus in der Visualisierung durch die «Wohnwelten» der einzelnen Milieus – denn Lebensgefühl und ästhetisches Empfinden eines Menschen äussern sich in der Regel ganz unmittelbar in der Gestaltung seiner direkten Umgebung. Im Gegensatz zu Kleidung, Schmuck, Make-up oder Frisur ist die Gestaltung der Wohnung auch kaum kurzfristigen Trends unterworfen. Die unterschiedlichen Lebensstile der verschiedenen Milieus können daher durch (authentisches) Bildmaterial der jeweiligen Wohnwelten untermauert und verdeutlicht werden.
Über den Mechanismus «Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist» gibt diese Visualisierung anhand der Wohnwelten den Produktverantwortlichen, vor allem aber auch den Kreativen wertvolle Hinweise für das Marketinginstrumentarium und die werbliche Ansprache. Die Wohnwelt ermöglicht, sich in die Zielgruppe hineinzuversetzen, indem man gedanklich quasi in deren Wohnzimmer steht.
Performer und EskapistenFür die Schweiz wurden zehn verschiedene Milieus identifiziert, die sich jeweils durch ganz unterschiedliche Kombinationen aus individuellen Werthaltungen, Einstellungen, Freizeitgestaltung und Alltagsästhetik kennzeichnen. Um für die Marketing- und Mediaplanung eine gewisse strategische Konzentration zu erreichen, lassen sich diese zehn Einzelmilieus zu vier grösseren Lebenswelt-Segmenten gruppieren. Im Einzelnen sind dies: die gesellschaftlichen Leitmilieus (dazu zählen die Arrivierten, die Postmateriellen und die modernen Performer), die Mainstream-Milieus (die Status-Orientierten, die bürgerliche Mitte und die konsumorientierten Arbeiter), die traditionellen Milieus (mit den Untergruppen des traditionell-bürgerlichen Milieus und den genügsamen Traditionellen) und schliesslich die unkonventionellen, jungen Milieus (mit den Milieus der Experimentalisten und der Eskapisten).
Unterschiede lassen sich nicht nur zwischen den Milieus, sondern auch zwischen den drei Sprachregionen der Schweiz erkennen. Während in der Deutschschweiz Werte wie Leistungsbewusstsein und Selbstvertrauen, ein gewisser Technikoptimismus und die Orientierung an materiellem Status dominieren, wird in der Westschweiz die regionale Identität betont. Generelle Weltoffenheit geht hier einher mit Erlebnisorientierung, Lebensgenuss und geringeren materiellen Ansprüchen. Deutlich sind auch Unterschiede zwischen der Deutschschweiz und dem Tessin auszumachen: Im italienischsprachigen Teil der Schweiz ist das Streben nach Status und Prestige nur von nachrangiger Bedeutung. Hier überwiegen die traditionellen Werte (etwa in Bezug auf Arbeitsethos und Rollenverteilung der Geschlechter), wobei ausgeprägte Familienorientierung und Harmoniebedürfnis auf eine gewisse Zukunftsangst treffen.
Einsatz im MedienbereichDie Sinus-Milieus werden für verschiedenste Zielsetzungen gebraucht: Sie dienen der differenzierten Beschreibung von Kunden- und Käufergruppen, sie lassen sich zur Früherkennung und Lokalisierung von Einstellungsänderungen einsetzen, zur Definition neuer Marktsegmente bei der Einführung neuer Produkte in den Markt oder bei Relaunches. Sie eignen sich auch zur Positionierung von Produkten und Dienstleistungen, zum Aufspüren von Marktnischen oder eben zur effizienten Ansprache von Käufergruppen und der Vermeidung von Streuverlusten bei der werblichen Kommunikation.
Im Medienbereich können parallel zur quantitativ ausgelegten Reichweitenforschung im Rahmen verschiedener qualitativer Studien auch die zielgruppenspezifische Wahrnehmung, Bewertung und Nutzung der verschiedenen Medien untersucht werden. Aus den milieuspezifischen Nutzungsmotiven, den Präferenzen sowie den Affinitäten und Barrieren der Milieus gegenüber verschiedenen Werbeträgern können so wertvolle Hinweise für die zielgruppengerechte Kommunikation abgeleitet werden. Vor allem die Verknüpfung der Sinus-Milieus mit bestehenden Daten, zum Beispiel bei der Zuschauermessung, bietet Mediaplanern und Werbekunden ebenso wie Programmplanern und Sendungsgestaltern praxisrelevante Informationen.
In den Nachbarländern ist dieses Vorgehen bereits erprobt worden: Mit dem Milieusansatz werden in Deutschland seit Mitte der Neunzigerjahre milieuspezifische Reichweiten wichtiger Werbeträger im Printbereich ermittelt. Dabei zeigt sich eine im Vergleich mit herkömmlichen Zielgruppenansätzen sehr gute Differenzierung der Sinus-Milieus, vor allem im Special-Interest-Bereich. Auch im TV-Bereich wird erfolgreich mit milieuspezifischen Auswertungen gearbeitet: In Deutschland sind die Sinus-Milieus seit Anfang 2000 in das AGF/GfK-Fernsehpanel, die TV-Reichweitenmessung der deutschen Fernsehsender, integriert. In Österreich steht die Auswertung nach Sinus-Milieus im Rahmen der TV-Forschung mit Teletest seit Anfang 2002 zur Verfügung.
Ergänzend zu bisherigen Zielgruppenauswertungen, die überwiegend auf soziodemografischen Merkmalen beruhen, kann die TV-Nutzung in Deutschland und Österreich zusätzlich milieubezogen analysiert werden. Es zeigt sich, dass Medienwahl und Mediennutzung je nach Milieu variieren. Unterschiede zeigen sich vor allem auch in der Art der Fernsehnutzung, der durchschnittlichen Sehdauer pro Tag, den bevorzugten Sendungen sowie der jeweiligen Affinität zu Online-Nutzung und der Nutzung von Teletext-Angeboten. Vergleichbare Auswertungen werden ab September 2003 durch die Verknüpfung der schweizerischen Sinus-Milieus mit den
Daten der Telecontrol auch für den Schweizer Markt zur Verfügung
stehen.
Persönliche Werthaltungen prägen den Lebensstil der VerbraucherUnter dem Oberbegriff Lebensstil werden ausgewählte Kombinationen typischer Verhaltensweisen einer Person zusammengefasst. Der Lebensstil umfasst zum einen äussere Verhaltensmerkmale (beispielsweise Freizeitverhalten, Gewohnheiten etc.), zum anderen psychische Variablen
einer Person wie allgemeine Wertvorstellungen, Einstellungen oder Meinungen. Erfasst wird der Lebensstil einer Person oder einer Gruppe über ein Beziehungssystem von situativen Faktoren und beobachtbaren Faktoren (activities), emotional bedingtem Verhalten (interests) sowie kognitiven Orientierungen und Wertvorstellungen (orientations) der betreffenden Person (AIO-Ansatz).
Vor allem die persönlichen Werthaltungen werden zunehmend herangezogen, um den Lebensstil von Konsumenten zu erfassen und zu typisieren. Das Heidelberger Institut Sinus Sociovision geht davon aus, dass die grundlegenden Werthaltungen, die einen Konsumenten prägen, relativ unabhängig von situativen Änderungen und kurzfristigen Trends sind.
Je höher die zeitliche Stabilität der verwendeten Kriterien ist, desto
grösser sei auch ihre prognostische Aussagekraft und die Relevanz für das Kaufverhalten.
Ad Person

Kerstin Schoegel ist Projektleiterin beim Institut HTP St.Gallen Management AG, das eng mit Professor Torsten Tomczak, Direktor des Instituts für Marketing und Handel an der Universität St.Gallen, zusammenarbeitet. Schoegels Arbeitsschwerpunkte sind strategisches Marketing, Marktforschung, Kundenzufriedenheit und marktorientierte Unternehmensführung.
Sinus-Milieus auch in der Schweiz

Erfolgreiche Kommunikation setzt umfassendes Wissen über den Konsumenten, seine Vorlieben und Gewohnheiten voraus – falsche Zielgruppenbestimmungen führen zu Streu- und Effizienzverlusten. Je
genauer man die individuellen Vorlieben der Konsumenten erfassen will, desto notwendiger erweist es sich, Zielgruppen jenseits soziodemografischer Merkmale zu beschreiben. Zahlreiche Unternehmen und Agenturen nutzen daher in Deutschland seit zwanzig Jahren
die Sinus-Milieus der Heidelberger Sinus Sociovision zur Zielgruppenbestimmung. Inzwischen findet das Modell auch in zahlreichen weiteren EU-Ländern sowie in den meisten osteuropäischen Ländern und in Nordamerika Verwendung.
Ab Herbst 2003 steht diese Methodik, die auf Lebenswelten und Lebensstilen der Konsumenten basiert, auch Schweizer Marketing- und Kommunikationsverantwortlichen zur Verfügung. Initiator und Auftraggeber der Schweizer Studie ist die Publisuisse mit folgenden Partnern: SRG-Forschungsdienst, PDAG, Credit Suisse und Sinus Sociovision GmbH. In drei Folgen stellt die Werbewoche die Sinus-Milieus der Schweiz vor. (sh)
Kerstin Schoegel

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