Virtual dementia

Deutschland hat eine neue «Spot-Sensation». Berührt Sie die neue Saturn-Kampagne?

Der Film «Anna» habe «das Zeug zum Klassiker», kündigte Horizont am Mittwoch die Vorab-Ausstrahlung an. Und auf W&V, wo er (ebenfalls ?) Premiere feierte, wurde Jung von Matts «grosser Wurf für Saturn» als «nächste Spot-Sensation» angepriesen.

Da lacht natürlich das Herz des Werbefreundes sofort, denn die deutschen JvM-Agenturen liefern in regelmässigen Abständen echte Highlights – oft lustig und unterhalsam (z.B. "All intentional" für die BVG). Mit der Edeka-Weihnachtskampagne «Heimkommen» gelang Jung von Matt ein emotionaler Coup, der die halbe DACH-Region zu Tränen rührte.

Saturn baut nun die Marke um, die hierzulande vor allem durch die JvM-Kreation «Geiz ist geil» bekannt war. Ein Claim, der sich seit Jahren als «Geiz-ist-Geil-Mentalität» im öffentlichen Sprachgebrauch festgesetzt hat. Mit einer negativen Konnotation – Geiz ist geil steht heute für viele Menschen sinnbildlich für vieles, was in der heutigen Welt falsch läuft: Egoismus, auf Kosten anderer sparen – und das um jeden Preis.

Jetzt menschelt es plötzlich. «Du kannst mehr» ist die Botschaft, mit der der Elektronikhändler wahrgenommen werden will. Saturns Produkte als Puzzlesteine zu einer wärmeren, menschlicheren Welt. Diese fängt im Kleinen, im Zwischenmenschlichen an. Und natürlich an der Saturn-Kasse.

Der Hauptfilm «Anna» zeigt, wie die verzweifelte Tochter dank VR-Technik ihrem dementen Vater das Bewusstsein für ihre eigene Person zurückgeben kann: Er erinnert sich plötzlich wieder an sie. Apropos erinnern: Das Ganze erinnert uns doch ein wenig an die Ifolor-Kampagne "Grace" von Walker – auch da wird einem dementer Mann durch einen medialen Stimulus Erinnerungen geschenkt. «Ist dieser Werbespot noch trauriger als der Edeka-Opa?», fragte damals die Bild-Zeitung.

https://www.youtube.com/watch?v=Ww1TpTh2Z2Q

Rührt Sie dieser Spot zu Tränen? Oder empfinden sie ihn als durchschaubare Tränendrüsen-Brechstange? Es ist wohl Geschmackssache. Viele Menschen kritisieren übrigens, hier werde eine Krankheit und die mit ihr verbundenen Schicksale missbraucht, um die Absätze von Elektronikprodukten zu steigern. Das war mit Sicherheit nicht die Absicht der Macher.

Ein weiterer Film der Kampagne, «Schlaflos», erzählt die Geschichte eines Mannes, der sich zuerst über die nächtlichen Wasch-Eskapaden der Nachbarin ärgert, dann herausfindet, dass diese eine arme, alleinerziehende Mutter ist und ihr schliesslich eine neue, leisere Maschine liefern lässt. Die Nachbarin nimmt die ungefragte und unangekündigte Lieferung einer Waschmaschine halbwegs gefasst entgegen. Denn sie scheint dank eines Blickes unter Nachbarn sofort zu verstehen: Der alte Mann gegenüber hat mir eine Waschmaschine geschenkt, weil meine Alte zu laut ist. Okay…

https://www.youtube.com/watch?v=bR4tp1ISpiM

Da sie sich des Problems offensichtlich bewusst zu sein scheint, fragt man sich, wieso sie nicht auf die Idee kam, mit dem (oder den) Nachbarn das klärende Gespräch zu suchen. Einmal mehr mussten es die Saturn-Produkte richten. Und das ist gut so, denn: Weihnachten steht vor der Tür.

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