Der TV-Konsum wird individueller

Forschung Eine Studie von Publisuisse zeigt: Der traute Familienabend vor dem TV ist bald passé. Künftig ist jeder sein eigener Programmdirektor.

Forschung Eine Studie von Publisuisse zeigt: Der traute Familienabend vor dem TV ist bald passé. Künftig ist jeder sein eigener Programmdirektor.Das Schweizer Fernsehen denkt voraus: Es spricht nicht nur vom Handy-TV, es produziert auch erste Inhalte. Den Anfang macht SF mit der «Tagesschau». Bereits sind einige Ausgaben als ein- bis zweiminütige Pilotsendungen für UMTS-fähige Mobiltelefone produziert. Zurzeit sucht SF noch Telecomunternehmen, die die Handy-«Tagesschau» in ihr Angebot aufnehmen. Wann die kostenpflichtige Ausstrahlung beginnt, ist noch nicht klar. Doch eines ist schon jetzt absehbar: Mit solchen Angeboten könnte sich die TV-Nutzung radikal verändern. Das Medium TV, das heute wie kaum ein anderes Medium fast nur in den privaten vier Wänden und nach fixen Sendezeiten konsumiert werden kann, wird zunehmend raum- und zeitunabhängig nutzbar.
Damit nimmt SF das Ergebnis einer Studie, die von der SF-Vermarkterin Publisuisse in Auftrag gegeben wurde, beinahe schon vorweg. Besser: Die Anstrengungen von SF bestätigen die Studie voll. Bei dieser wurden in- und ausländische Experten danach gefragt, welche technischen Neuerungen sie in Bezug auf das Medium TV als relevant einstufen und welche Rückschlüsse auf das Nutzungsverhalten sich daraus ableiten lassen. Die Studienmacher schälten aus diesen Antworten schliesslich elf Trends heraus.
Trend zur «Singleization»In einer zweiten Befragungsrunde nahmen die Experten dazu Stellung und bewerteten sie. Das Resultat: 9 von 33 Antwortenden halten nicht etwa die viel beschworene Medienkonvergenz für die wichtigste Entwicklung in Bezug auf TV, sondern die Befreiung des Mediums von Raum und Zeit (in der Studie «De-Anchoring» genannt).
Der TV-Konsum wird künftig überall und zudem zeitversetzt beziehungsweise ganz nach Bedarf möglich sein, heisst es in der Studie. Die Folge daraus: Die Nachfrage nach Technologien und Geräten, die den räumlich und zeitlich unabhängigen TV-Konsum unterstützen, steigt. Die Hälfte der Befragten ist denn auch der Meinung, dass dieser Trend schon bis 2010 spürbar wird.
Der mit fünf Expertenstimmen zweitwichtigste Trend wird als «Singleization» bezeichnet. Er ist im Prinzip eine Folge des ersten: Jeder Konsument wird sein eigener Programmdirektor. Der TV-Konsum wird individueller, jeder entscheidet selbst, was er sich wo und wann zu Gemüte führt. Endgeräte, welche die Auswahl und das Zusammenstellen der Inhalte nach persönlichen Vorlieben ermöglichen, erhalten den Vorzug.
«Multiplicity» heisst der dritte Trend (vier Stimmen) und bezeichnet die Zunahme von Angeboten und Angebotsmodellen. «Pay-TV gewinnt neben Free-TV an Bedeutung», ebenso Spartensender, Pay-per-view, Video on Demand und anderes mehr.
Die übrigen acht Trends sind zumeist Folgen der drei erstgenannten und gehen noch stärker ins Detail. Zum Teil widersprechen sie auch den «Haupttrends». Was diese aber nicht grundsätzlich in Frage stellt. Denn bekanntlich erzeugt jeder Trend auch einen Gegentrend. So wird es immer auch Leute geben, denen die schöne neue TV-Welt nicht behagt, die sich zeitlich oder technisch überfordert fühlen und deshalb alles möglichst billig, einfach und überblickbar haben wollen. Auch solche Überlegungen scheinen in den elf Trends auf. Doch die Gewichtung durch die Experten zeigt: Mobiles TV wird in Zukunft immer stärker gefragt sein. Bei SF ist man davon offenbar ebenfalls überzeugt und will in der Schweiz zu den ersten Anbietern gehören.
«Experten» im Sinne der StudieFür die hier vorliegende so genannte Expertenbefragung,
die in zwei Runden durchgeführt wurde, waren insgesamt 66 Personen von Hochschulen, TV-Veranstaltern, Werbe- und Mediaagenturen, Telekommunikationsunternehmen, Netzbetreibern, Beratungsfirmen sowie Vermarktern angefragt – je zur Hälfte aus der Schweiz und aus dem Ausland.Effektiv nahmen dann in der ersten Runde 40 und in der zweiten Runde 33 Personen teil. Punkto «Sachkompetenz» gab es allerdings kein einheitliches Kriterium, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mussten sich selbst einschätzen.
So stuften sich 11 Studienteilnehmer als «Experten» ein, 16 bezeichneten sich als «sachverständig», 15 fühlten sich mit der Materie «vertraut», während sich einer damit nur «gelegentlich beschäftigt».
Die Bezeichnung «Expertenbefragung» ist denn auch der Hauptmangel an der vorliegenden Studie. Denn die Definition eines Experten rein nach beruflicher Funktion und Selbsteinschätzung reicht nicht, kommt dazu, dass sich mindestens zwei Drittel der Teilnehmenden ausdrücklich nicht als Experten
bezeichnen.
Eine zweite Schwäche: Die Studie enthält unzählige Abkürzungen wie IPTV, PVR, EPG, LCD, DVR, VoD sowie Begriffe wie Timeshift oder Multiplayer Gaming, die alle nicht erklärt sind. Ein Glossar fehlt.
«TV-Medium der Zukunft», Teil IUnter dem Obertitel «TV-Medium der Zukunft»
publiziert Publisuisse im nächsten halben Jahr eine ganze Reihe von Studien. Den Auftakt macht die hier zusammengefasste Expertenbefragung, die zwischen dem 25. Januar und 6. April 2006 durchgeführt wurde.Anfang Juni folgt eine Studie aus der Sicht der TV-Nutzer: Diese reflektieren ihre heutige Nutzung in Gesprächsgruppen und äussern sich über ihr ideales TV der Zukunft. Die Ergebnisse dieser Gespräche werden mit den Resultaten der Expertenbefragung verglichen.
Mitte Juli wird die per Onlinebefragung erhobene «Marktsicht» von Werbe- und Mediaagenturen und Werbeauftraggebern publiziert. Diese äussern sich über die technische Entwicklung beim Medium TV und zeigen, wie sie sich darauf einstellen.
Im August folgen drei Interviews mit so genannten Experten im Bereich Werbewirkung. Anfang Oktober publiziert die Publisuisse ein Dossier zur Studienreihe. Und auch das am 3. Oktober stattfindende Digi Trend Forum steht ganz im Zeichen der TV-Zukunft. Danach will Publisuisse diesbezüglich am Ball bleiben, indem sie künftige (auch fremde) Studien auswertet, zusammenfasst und die Resultate mindestens einmal jährlich kommuniziert.
Markus Knöpfli

Die vollständige Studie ist auf werbewoche.ch (Tools/Studien) zu finden.

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