«Wer wegen eines Titels zu Yellow kommt, ist völlig am falschen Ort»

Die strategische Kreativagentur Yellow stellt die Organisation um. Inspiriert durch holokratische Modelle ersetzt das Unternehmen die klassischen Funktionen durch Rollen und übergibt die Verantwortung an autonome Teams. Die Zusammensetzung der Teams wird von der Aufgabenstellung der Kunden bestimmt. Werbewoche.ch hat bei Agenturchef Reto Meyer nachgefragt.

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Client Service-Director, Werbeassistent, Junior Art-Director, Screen Designer, Creative-Director, Senior Copy-Writer, Traffic-Manager, Account-Manager und so weiter: diese Funktionen gibt es bei Yellow nicht mehr. Noch radikaler: Es gibt überhaupt keine Funktionen mehr. Die Strategische Kreativagentur in Basel hat sich für ein Organisationsmodell entschieden, das sich an den Eigenschaften der holokratischen Prinzipien anlehnt. «Die Ausführungen von Frédéric Laloux in Die Neuerfindung der Organisation hat mich vollständig überzeugt und zu diesem Schritt motiviert», begründet der Inhaber Reto Meyer seinen Entschluss.

«Die bisher gängige Organisation, bei der immer die gleiche Gruppe für einen Kunde zuständig war, weist bei der heutigen Komplexität der Herausforderungen beachtliche Nachteile auf». Reto Meyer sieht beim alten Modell die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, auf einem bestimmten Mandat nicht die notwendigen Talente vertreten zu haben. Zudem hätten in der Vergangenheit gewisse Funktionsträger Aufgaben übernehmen müssen, die ihnen nicht hundertprozentig entsprochen hätten, was die Qualität der Arbeit geschmälert oder die Überzeugungskraft gegenüber dem Kunden geschwächt hätte.

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Das Modell von Yellow funktioniert ganz simpel. Je nach Aufgabe des Kunden, benötigtem Vorwissen, individuellem Talent und persönlichem Interesse übernehmen die Mitarbeitenden bei Yellow unterschiedliche Rollen. So gibt es zum Beispiel Moderatoren, Schatzmeister, Digizepter, Ambassadoren oder Schreiber. Die Zusammensetzung der Teams richtet sich voll und ganz nach der Aufgabenstellung. Um die Verantwortung gegenüber dem Kunden gemeinsam tragen zu können, organisieren sich die Teams beim Start des Projekts selbst.

Zuständig für den Kontakt mit dem Kunden sind die Ambassadoren. In diese Rolle schlüpft das Teammitglied, das den besten Draht zum Kunden hat oder über die profundesten Branchenkenntnisse verfügt. Wichtige Weichen im Projekt werden immer im Team gestellt. Yellow ist überzeugt, dass so ausgereiftere und kreativere Lösungen entstehen, wie wenn nur einzelne Funktionsträger bestimmen.

«Die Organisation ist noch jung. Doch wir lernen täglich besser damit umzugehen», räumt Reto Meyer ein. Die Notwendigkeit sich neu zu erfinden, ist für ihn jedoch ausser Zweifel und die Erfahrungen der ersten Monate stimmen ihn sehr zuversichtlich.

Wie funktioniert die Organisationsstruktur in der Praxis? Werbewoche.ch hat sich mit Agenturgründer Reto Meyer über die Neuausrichtung unterhaltung.

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Werbewoche.ch: Reto Meyer, wann kam Ihnen die Idee, die Organisationsstruktur der Agentur «auf den Kopf zu stellen» und diesbezüglich neue, moderne Wege zu gehen?

Reto Meyer: Mein Anspruch bei der Fusion von WS und BSSM im Juni 2018 war, eine «neue» Agentur zu gründen. Ich habe nach Organisationsformen gesucht, bei denen ich als Chef nicht der Flaschenhals bin, keine Energie durch interne Graben- oder Gärtchenkämpfe verpufft wird und jeder Mitarbeitende sein volles Potenzial zugunsten der Auftraggeber ausschöpfen kann. Deshalb habe ich mich intensiv mit anderen Organisationsformen beschäftigt, habe mir Firmen angeschaut, die Holokratie leben und meine eigene Version skizziert.

 

Diente eine andere Schweizer Agentur für das neue Organisationsmodell als Vorbild oder ist dieses in der Schweiz bei Kreativagenturen neuartig?

Auslöser war Frederic Laloux‘ «Reinventing Organization». Die im Buch beschriebenen Cases aus unterschiedlichen Branchen und Bereichen haben mich fasziniert. Bei einem Gespräch mit Ivo Bättig von Unic konnte ich mich davon überzeugen, dass es sich nicht nur im Buch gut liest, sondern in der Praxis umsetzen lässt.

 

Für die Arbeitnehmenden spielen Jobbezeichnungen vermutlich eine wichtigere Rolle als für die Agentur – etwa für den Lebenslauf oder die Visitenkarte. Haben Sie keine Bedenken, dass Yellow als Arbeitgeber an Attraktivität einbüsst? 

Wer wegen eines Titels zu Yellow kommt, ist völlig am falschen Ort. Unsere Mitarbeitenden sind bei uns, weil sie sich mit dem Purpose der Agentur identifizieren und ihre Talente vollumfänglich einbringen wollen. Ich bin überzeugt, dass durch unsere Organisation die Job-Zufriedenheit steigt und denke, dass meine Vermutung von vielen HR-Experten bestätigt würde. Dazu ein Zitat: «When we tell people to do their jobs, we get workers. When we trust people to get the job done, we get leaders».
Wird man auch in Zukunft als Creative Director eingestellt, beziehungsweise existieren diese Bezeichnungen auf dem Papier weiter?

Wichtige Entscheidungen werden immer vom Team gefällt. Dazu gehören auch die Themen, die in klassischen Organisationen von jeder Art von Direktoren entschieden wurden. Diversität erhöht nicht nur die Bandbreite, in der Lösungen gesucht werden, sondern auch die Einschätzung von Geht-nicht bis Award-winning.

 

Ändert sich durch die neue Organisationsform die Art, wie man neue Mitarbeitende rekrutiert, bzw. deren Anforderungen?

Wir schreiben keine Job Description oder einen Funktionstitel aus, sondern nennen die Talente, welche die neue Person mitbringen muss. Im Moment scheint sich dies von allein zu ergeben. In letzter Zeit erhalten wir Blindbewerbungen, in denen die Leute sich auf unsere Rollen beziehen, in denen sie sich sehen. Die letzten drei Anstellungen von Yellow waren alles solche Blindbewerbungen.

 

Haben die Mitarbeitenden überhaupt das Bedürfnis, in verschiedene Rollen zu schlüpfen – oder arbeiten sie – je nach Persönlichkeit – nicht gerne in ihrem angestammten Gärtchen?

Jede Chance braucht Zeit. Das ist selbstverständlich auch bei Yellow so. Und das trifft sowohl auf Teammitglieder zu, die schon lange bei uns sind, als auch auf neue. Das Leitungsteam ist sich dieser Tatsache bewusst und unterstützt motivierend.

 

Ändert sich in der Praxis viel oder nennen sich die Texter jetzt einfach Schreiber und die Berater Ambassadoren?

Es liegt in der Natur der Sache, dass für gewisse traditionelle Funktionen dieselben Talente gefragt waren, wie wir sie heute brauchen. Ein Schreiber hat neben seinem Schreibtalent jedoch noch viele andere. Um bei diesem Beispiel zu bleiben, kann er oder sie in einem Team die Rolle als Moderator, Ambassador oder Advocatus Diaboli übernehmen.

 

Lässt das Modell zu, dass Mitarbeitende für Projekte in komplett anderen Bereichen arbeiten, als dass sie es in ihrer bisherigen Karriere getan haben?

Das ist sogar sehr wahrscheinlich. Denn, bei Yellow werden die Mitarbeitenden nicht auf ihre Job Description und das dazugehörende Kästchen im Organigramm reduziert. Oberste Priorität hat der Beitrag eines Mitarbeitenden zur Lösung eines klar definierten Problems.

 

Wenn Verantwortung, Entscheidungsgewalt und Hierarchie abgebaut und verteilt werden, müssen einzelne Personen immer auch davon abgeben. Kann das nicht auch zu Unzufriedenheit in einer Agentur führen?

Unzufriedenheit entsteht, wenn sich eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter nicht vollkommen respektiert fühlt. Das kann durch Ablehnung eines Vorschlags oder Kritik an der Arbeit entstehen. In einer Organisation ohne Hierarchien gibt es keine Gewinner und Verlierer. Das Team definiert zu Beginn eines Projekts das gemeinsame Ziel und die Rollen. Erfolg wird also immer geteilt.

 

Sie schreiben, die Erfahrungen der ersten Monate stimmen Sie sehr zuversichtlich. Wie hat sich der Arbeitsalltag in der Agentur verändert?

Wie eingangs erwähnt, stehen wir bei Yellow am Anfang unserer Reise zur «neuen» Organisation. Die Lernkurve beginnt zu steigen. Zu sehen ist, dass der Austausch untereinander intensiver geworden ist. Dass ich langjährige Mitarbeitende in neuen Rollen agieren sehe – was mich extrem freut. Ich entdecke zum Teil Talente, die mir bisher nicht bekannt waren. Die Kommunikation ist sicherlich eine Herausforderung. Hierzu hilft uns aber auch Slack, in welches wir zunehmend häufiger den Kunden ebenfalls direkt einbinden.

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