Werbung trotz Krise: Ganz normal oder totales No-Go?

Darf man in Krisenzeiten überhaupt noch werben? Man sollte sogar, denn: Werbung unterstützt die freien Medien, und diese braucht es aktuell dringender als jemals zuvor. Ein Gastbeitrag von Dirk Lux.

Die Welt ist in Aufruhr – sollen Auftraggeber trotzdem Werbung schalten? (Bild: unsplash.com)

Mit Schrecken verfolgen wir derzeit die täglichen Nachrichten: In der Ukraine fürchten wehrlose Menschen um ihr Leben. Millionen sind auf der Flucht, und viele Menschen bei uns haben Angst vor einer Eskalation dieses Krieges auch auf Mittel- und Westeuropa. Viele Werbeauftraggeber fragen sich, ob es in solchem Zeiten angemessen sei, überhaupt zu werben. Empfinden die Menschen es nicht als pietät- und gedankenlos, dass die heile Werbewelt einfach weiter so wirkt, als gäbe es all das Leid und das Elend nicht?

Sich um andere sorgen ist menschlich – aber für sich sorgen ist es auch

Es liegt in der menschlichen Natur, sich zu sorgen und Mitgefühl zu zeigen. Die Menschen verfolgen das aktuelle Geschehen intensiver als sonst; wir spenden, wir versuchen zu helfen, wir hören zu. Aber das können und wollen wir nicht 24 Stunden am Tag tun – es würde uns krank machen. Wir Menschen brauchen auch Entspannung und Ablenkung, im Moment vielleicht sogar mehr als in normalen Zeiten. Daher schauen wir auch weiterhin gern Unterhaltungssendungen im Fernsehen, treffen Freunde, spielen Computerspiele, gehen ins Kino oder besuchen ein Fussballspiel.

Corona hat gezeigt, wie wir Menschen auf existenzielle Krisen reagieren

Die letzte existenzielle Krise unserer Gesellschaft – die COVID 19-Pandemie – ist noch nicht mal wirklich vorbei. Der erste Lockdown im März 2020 hat gezeigt, wie eine Gesellschaft in einer existenziellen Krise reagiert. In der ersten Phase des Lockdowns nutzten die Menschen sehr intensiv Nachrichtenumfelder, um die Situation zu verstehen und die Risiken einzuschätzen. Dann passierte aber etwas anderes: Die Nachrichten – so schlimm sie waren – wurden zur Routine, und die Menschen wandten sich verstärkt Unterhaltungsumfeldern zu. Das kommt nicht von ungefähr: Unterhaltung und Entspannung sind klassische Mediennutzungsmotive, die in der Mediennutzungsforschung wissenschaftlich gut dokumentiert sind – und sie werden in Krisenzeiten umso wichtiger. Man taucht ab in eine Parallelwelt, um bewusst von der Realität eine erholsame Auszeit zu nehmen. Wir Menschen brauchen das für unsere geistige Gesundheit. Das ist ganz normal und nicht verwerflich.

Was Werbeauftraggeber aus Corona für die aktuelle Situation lernen können

Auch zu Beginn der Corona-Krise haben viele Werbeauftraggeber hinterfragt, ob Werbung angesichts der Schreckensnachrichten und des Lockdowns angemessen sei. Einige Werbekunden haben ihre Kampagnen 2020 tatsächlich verschoben – Sinn machte das vor allem bei solchen, deren Businessmodell durch den Lockdown unmittelbar betroffen war, zum Beispiel beim stationären Handel. Manche Werbeauftraggeber haben ihre Kampagnen aber auch weitergeführt oder sogar verstärkt und konnten damit von günstigen Werbeplätzen profitieren. Es war jedoch in der ersten Zeit des Lockdowns gängige Praxis, Nachrichtenumfelder zu meiden und vor allem in Unterhaltungsumfeldern präsent zu sein. Im Nachhinein betrachtet ist aber eines nie passiert: Niemand hat den Werbeauftraggebern ihre Werbung übelgenommen. Sie war und blieb immer ein Teil der gewohnten Normalität der Mediennutzung, besonders in Unterhaltungsumfeldern.

Eine Empfehlung

Anders als zu Corona-Zeiten steht uns durch den Ukraine-Krieg kein Lockdown ins Haus, es gibt also keine unmittelbaren Business-Gründe, keine Werbung mehr zu schalten. Auch die grundsätzliche Verfügbarkeit der Medien respektive die Mediennutzung sind durch den Krieg nicht eingeschränkt.

Gewisse Restriktionen hinsichtlich Platzierungen können für gewisse Marken sinnvoll sein, wenn es um Nachrichten oder Sondersendungen zur Ukraine geht. Dies betrifft vor allem TV, Digital und gewisse Anzeigenplätze in bestimmten Zeitungstiteln. Dies sollte mit den jeweiligen Agentur-Kundenberatern bilateral abgestimmt werden.

Je nach Art der Kampagne kann es zudem sinnvoll sein, über den Inhalt der Kommunikation kritisch nachzudenken. Militärisches oder gar kriegerisch-aggressives Vokabular dürfte als unangemessen empfunden werden (etwa Begriffe wie «Operation», «Offensive», «Preisbombe») – hier sind Anpassungen ratsam.

Kampagnen zu stornieren nutzt hingegen niemandem: Der Ukraine nicht, den von dort flüchtenden Menschen nicht und auch den Marken nicht. Nicht zuletzt sind nämlich die freien Medien auf Werbung angewiesen – und die brauchen wir alle im Moment mehr als jemals zuvor.


* Dirk Lux ist CEO von Publicis Media.

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