«Die Zeit der Quick Wins ist vorbei»

Zwei Männer, die 2020 mächtig Lärm mit ihrer Arbeit gemacht haben, sind Martin Walthert, aktueller Werber des Jahres und Marketingchef von Digitec Galaxus, und der Zweitplatzierte, Tobias Zehnder, Mitgründer von Webrepublic. Die Werbewoche hat sich mit den beiden getroffen und versucht, herauszufinden, wie die Essenz des Erfolges zusammengesetzt ist.

wewo_2020_11-12_6-9_P94242-1_LOW-2

Werbewoche: Martin Walthert, herzlichen Glückwunsch zum Titel Werber des Jahres 2020. Was sind die Zutaten Ihres Erfolges?

Martin Walthert: Was die Kriterien für die Wahl zum Werber des Jahres sind, weiss ich nicht, da müssten Sie die Jury fragen. Ich nehme an, es ist eine Kombination von einerseits langfristiger Leistung und Kontinuität in auffallender Werbung und andererseits, was das Potenzial für die Branche ist, wofür die Person steht. Also auch eine gewisse
Repräsentationsfunktion.

 

Nächstes Jahr sitzen Sie auch in der Jury, diese besteht ja aus ehemaligen Gewinnern und Gewinnerinnen des Egon.

Walthert: (lacht) Genau, dann lerne ich sicher mehr über die Zutaten, die es braucht.

 

Die Werbung von Digitec Galaxus ist in aller Munde und gewinnt Preise und Awards. Beim Edi haben sie mit Ihrem Team auch gerade Gold abgeräumt in der Kategorie Commercials. Die Kampagnen sind oft selbstironisch und immer nah am Menschen. Was macht Digitec Galaxus richtig?

Walthert: Wir gehen schon einen aussergewöhnlichen Weg. Wir fahren keine Einwegkommunikation, also haben ein perfektes Produkt und nehmen das perfekte Bild dazu mit der perfekten Botschaft, sondern wir lassen sehr viel offen. Wir treten in Dialog und simulieren keine heile Welt. Es muss nicht immer alles perfekt sein, sondern möglichst nahe an den Menschen, sei es mit den Kundenbewertungen bei Digitec oder den ironischen Brüchen von Werbungen durch das echte Leben bei Galaxus. Das ist formal und inhaltlich unkonventionell und kommt gut an.

 

Bei Digitec Galaxus ist Werbung hausgemacht. Sie haben eine Inhouse-Agentur, und somit sind Sie Ihr eigener Auftraggeber. Das hat doch sicher Vorteile, oder?

Walthert: Der grösste Vorteil ist, dass wir schnelle Entscheidungswege haben. Wir sitzen Rücken an Rücken, die Entscheidungsträger sind, quasi, immer im gleichen Raum. Ich kann dem Grafiker über die Schulter schauen, der wieder dem Media Planner, wir machen das alles selber. Das gibt einen schnellen Austausch und einen sehr hohen Output.

 

Und Sie müssen sich nicht beim Auftraggeber rechtfertigen.

Walthert: Man muss sich schon rechtfertigen, aber eben nicht vorauseilend und nur intern. Wir haben zum Beispiel das Digital Marketing, dann die Grafiker, das Media Planning und das Brand Management. Da haben wir schon verschiedene Perspektiven und das ist auch wichtig. Aber was nicht stattfindet, ist, dass wir denken: «Das müssen wir gar nicht vorschlagen, das wird eh nicht abgesegnet.»

 

Tobias Zehnder, Sie sind Stratege und Mitgründer von Webrepublic. Sie haben vor elf Jahren mit Ihrem Partner Tom Hanan die Agentur gegründet und sind jetzt auf dem Weg, eine Full-Service-Agentur zu werden. Zu Ihnen kommen Unternehmen und sagen, wir möchten unsere Performance verbessern oder unsere Sichtbarkeit optimieren. Sie wollen also bessere Marketingstrategien, wie geht Webrepublic vor?

Zehnder: Das ist eine grosse Frage, ich möchte erstmal meinem Kollegen hier herzlich gratulieren, ich hätte dich auch gewählt, wenn ich nicht selber nominiert gewesen wäre. (lacht)

Walthert: Danke dir.

Zehnder: Als Agentur stellen wir sicher, die gesamte Leistung unserer Kunden in erfolgreiche Kommunikationumzumünzen. Das erreichen wir, indem
wir einen ganzheitlichen Ansatz verfolgen. Meine Funktion als Zukunftsstratege ist dabei, der Realität etwas vorauszueilen.

 

Das heisst im Klartext?

Zehnder: Ich bewege mich als Schnittstelle zwischen dem Markt, der Agentur und dem Kunden, evaluiere Bedürfnisse, Trends und Dimensionen. Danach schaue ich, welche Skills es braucht, um die Kommunikation des Kunden zu optimieren. Entsprechend entstehen dann die transdisziplinären Teams, die die Basis einer erfolgreichen Marketingstrategie bilden.

 

Das reicht Webrepublic aber nicht, Sie haben zusammen mit der Agentur Wirz «BoB» gegründet, «Best of Both», um neu auch die Expertise im Kreativen abzudecken und so den Kunden eine breitere Unterstützung bieten zu können.

Zehnder: Genau. BoB ist unsere unkonventionelle Antwort auf die aktuellen Entwicklungen in der Branche. Unsere beiden Agenturen haben in unterschiedlichen Gebieten – Wirz im Kreativen, wir im Digitalen – extrem viel Know-how. Durch die Partnerschaft können wir diese Expertise für unsere Kunden gewinnbringend einsetzen.

 

Und nun kommt noch ein Puzzleteil dazu…

Zehnder: Die Lancierung von 360° Media. Wir strecken uns von den digitalen Touchpoints in die klassische Welt: TV, Out-of-Home, Print, Radio und Kino.

 

Damit ist Webrepublic dann eine Full-Service-Agentur?

Zehnder: Wir bringen damit alles unter einen Hut. Der Frage, was das beste Verständnis der kreativen Möglichkeiten einer Kampagne ist, gehen wir zusammen mit den Kollegen von Wirz nach. Die technische Umsetzung, die Kanalbespielung also, ist ja bereits unsere Kernkompetenz. Und die Mediaplanung, die sich daraus ergibt, haben wir mit 360° Media professionalisiert und unser bisheriges digitales Portfolio mit Offline erweitert. Aber es gibt natürlich noch viel zu lernen.

 

Zum Beispiel?

Zehnder: Wie funktioniert Plakat- und TV-Werbung? (lacht)

 

Da könnte Martin Walthert aushelfen.

Zehnder: Genau, da werden wir uns noch austauschen. Aber wir sind zuversichtlich, dass wir auch diese neuen Kanäle stemmen werden. Wir gehen mit Technologie, Kreativität und Media in den Markt, damit wir für unsere Kunden alles aus einer Hand anbieten können – vom Plakat an der Tramstation bis zum Erlebnis auf der Website.

Walthert: Ich finde das super sinnvoll, dass man so ein Gesamtpaket anbietet, wo es schlussendlich um den Inhalt geht.

Zehnder: Das sehe ich auch so. So gelingt es, die Zielgruppe mit einer für sie relevanten Botschaft dort anzusprechen, wo sie sich aufhält.

wewo_2020_11-12_6-9_P94242-1_LOW-1
Haben grossen Respekt voreinander: Martin Walthert (links) und Tobias Zehnder (rechts).

Kann man Marketing, Werbung und Kommunikation überhaupt noch trennen?

Walthert: Damit das alles aus einem Guss kommt, vermischt es sich natürlich. Und letztlich sollen ja alle Kanäle eine gleiche Sprache sprechen. Deshalb ergibt es Sinn, wenn Kommunikation, Marketing und die kreative Umsetzung in einer Abteilung sitzen. Gerade in dieser schnelllebigen Zeit.

 

Sie haben mal in einem Werbewoche-Interview gesagt, dass vieles nicht genau messbar ist und dass man nicht nur auf die Zahlen schauen sollte. Wie kann man das verstehen?

Walthert: Wir messen schon so viel wie möglich, auch jede Kampagne, die wir machen. Aber es ist wichtig, dass man jede Massnahme mit den richtigen Mitteln misst. Und das wird teilweise missverstanden, glaube ich. Man muss genau wissen, was das Ziel einer Kampagne ist, und dann auch nur das Ziel messen – und möglichst mit der Methodik, die dafür funktioniert. Jedes Tool spuckt irgendeine Zahl aus, man muss kritisch hinterfragen, was habe ich überhaupt gemessen, was gibt es für Drittfaktoren? Und ob meine Methode dafür taugt.

 

Tobias Zehnder, Kunden wollen messen, wie ihre Kampagnen ankommen, welche Rolle spielt Webrepublic da?

Zehnder: Gegen Ende der Nullerjahre wollten alle Werbung messbar machen. Und das hat gut funktioniert, solange Digital ein abgeschlossener Kosmos war. Man konnte sagen: Da bewegt sich jemand, der sucht etwas bei Google, kauft das Produkt und so weiter. Heute aber befinden wir uns in einer Art post-digitalen Welt. Es gibt keinen einzigen Kunden-Touchpoint mehr, der nicht irgendwie digital beeinflusst ist. Aber – und ich sehe es genauso wie Martin – es gibt Dinge, die sind nicht messbar.

 

Was zum Beispiel?

Zehnder: Wenn Sie mir auf Whatsapp das Airbnb schicken, wo Sie letzte Weihnachten waren, und ich buche das nachher, dann ist diese Aktion nicht direkt messbar. Darum ist es so wichtig, zu verstehen, wo die Messbarkeit aufhört. Die Menge an Tools und Zahlen ist immens, doch wenn man nicht weiss, was dahintersteckt, bringen einem diese Informationen nichts.

Walthert: Da macht ihr einen guten Job, finde ich. Ihr seid transparent und verkauft nicht unreflektiert Zahlen. So kann man sich als Agentur gut positionieren. Und ist glaubwürdig, und das ist sehr wichtig.

Zehnder: In den letzten zwei Jahren hat sich das Verständnis datengetriebener Kommunikation auf Kundenseite extrem entwickelt. Und jetzt komme ich auf Ihre Frage zurück: Was ist unsere Rolle als Agentur? Es ist cool, wenn du mit Leuten auf Kundenseite zusammenarbeitest, die genau wissen, was sie von uns als Agentur erwarten. Die können auf die Finger hauen, wenn es nicht läuft. Das gegenseitige Verständnis ist sozusagen bereits gegeben. Aber es gibt eben auch die andere Seite. Eine der wichtigsten Fragen ist also, wer von unserem Team auf welchem Mandat eingesetzt wird. Also, wo braucht es einen Coach, wo einen Operativen? Das ist eine unserer wichtigsten Aufgaben: Sicherzustellen, dass die richtige Beratung stattfindet.

 

Märkte sind Gespräche, befinden die Cluetrain-Manifeste. Der Mensch kauft keine Produkte, sondern Wertvorstellungen, die zum eigenen Selbstbild passen und mit denen er sich in der Community darstellen kann. Wie können sich Unternehmen da positionieren?

Walthert: Der grösste Wert, den man als Unternehmen im Angebotsdschungel haben kann, ist, dass man glaubwürdig ist. Und wenn man beispielsweise echte Kundenbewertungen als Werbesujets veröffentlicht, wirkt auch das glaubhaft und ist nah am Menschen.

 

Wie ist die Idee mit den Kundenbewertungen eigentlich entstanden?

Walthert: Die Idee ist irgendwann in einer Pizzeria entstanden. Da dachten wir, machen wir mal etwas Neues, visuell Auffälliges, indem wir auch 1-Stern-Bewertungen auf Plakate bringen. Das ist viel glaubwürdiger als ausschliesslich gute Bewertungen.

 

Gab es vonseiten des CEOs mal ein «Nein, das geht nicht» oder von Produzentenseite einen Ausruf wie «Das schadet unseren Produkten,
wenn damit geworben wird, dass das Scheissding nicht funktioniert»?

Walthert: Das hat es in der Anfangsphase schon gegeben und ich habe hier und da auch Wogen glätten müssen. Das war wirklich etwas Neues. Und wenn man etwas Neues macht, dann fällt es auf – und nicht immer nur positiv, mit dem muss man rechnen.

 

Wie sah die Überzeugungsarbeit aus?

Walthert: In der Online-Welt gibt es ja sowieso Transparenz. Menschen bewerten ja jeden Mist. Es geht also nicht darum, Kritik unter den Teppich zu kehren, sondern es geht um den Umgang damit. Und so ist jede schlechte Wertung auch eine Chance. Es geht dem Kunden nicht darum, die Firma fertigzumachen, sondern die haben mehr oder weniger berechtigte Kritik. Und wenn du darauf gut eingehst, dann bist du vielleicht sogar sympathischer als vorher. Und hast vielleicht sogar noch etwas gelernt, um es in Zukunft besser zu machen. Wenn man das vermitteln kann, dann ist eine schlechte Bewertung gar nicht schlimm.

Zehnder: Ich muss sagen, ihr ruiniert die Werbung. (lacht) Ihr habt mit euren authentisch und spielerisch gestalteten Werbungen einen neuen Standard gesetzt. Das Gegenstück zu perfekt abgestimmter Hochglanzwerbung.

Walthert: Ja, das ist unser geheimer Masterplan. Wir wollen ja erreichen, dass man bei jeder Werbung, die man sieht, am Anfang nicht ganz sicher ist, ob es eine von uns sein könnte … (lacht).

wewo_2020_11-12_6-9_P94242-1_LOW-3
Tobias Zehnder (links), Martin Walthert und Werbewoche-Chefredaktorin Anna Kohler im Tablecast-Studio beim Interview.

Meinen Sie, die Menschen wollen so perfekteScheinwelt-Werbung überhaupt noch sehen, ist das noch zeitgemäss?

Walthert: Ich glaube, man kann es nicht so pauschal sagen. Wenn sie zum Beispiel eine schöne kitschige Weihnachtswerbung sehen, obwohl sie wissen, es ist Werbung, finden sie es dennoch schön, die Emotionen, die es auslöst. Und das finde ich auch gut, nur noch Ironie wäre ja auch langweilig.

Zehnder: Genau, so mega kitschig, wie der Coca-Cola-Truck, der berührt mich immer noch.

 

Geht es nicht auch um die Zielgruppe, die ein Unternehmen mit seiner Werbung erreichen will?

Zehnder: Ja. Das Verständnis der Zielgruppe ist sehr wichtig. Die Tonalitäten können sehr unterschiedlich sein. Deshalb werden wir wohl nie ironische
Werbung von Chanel sehen.

 

Wo sehen sie die grössten Herausforderungen und Chancen in den nächsten Jahren?

Zehnder: Die Zeit der Quick Wins ist vorbei. Ich glaube, viele Unternehmen, bei denen nach wie vor Silos bestehen, haben eine riesige Baustelle vor sich. Marketingfachleute müssen sich jetzt von diesem Denken verabschieden: Weder lassen sich Verkauf und Marketing trennen, noch «klassische» und digitale Werbung. Das Jahr 2020 ist ein Turbo-Digitalisierungsjahr. Und diese Digitalisierung in den Unternehmen wirklich zu verorten und gemeinsam voranzutreiben ist Knochenarbeit. Bei Webrepublic bieten wir deshalb auch Beratungsdienstleistungen, um den Unternehmen zu helfen, die richtigen Leute für ihre Digitalisierung zu rekrutieren. Im Marketing geht es also in den nächsten zwei bis drei Jahren nicht mehr um die grosse Frage, welchen Kanal ich wie buche, sondern wie ich die gesamte Kommunikation über alle Kanäle hinweg sinnvoll gestalte.

 

Wir wechseln die Perspektive. Sie haben beide Kinder. Wie erklären Sie denen, was Sie beruflich machen?

Walthert: Also, meine Kinder sind ja noch jung. Sie sind vier und sechs Jahre alt. Aber wenn ich mit ihnen zum Beispiel im Kino bin und da läuft eine Galaxus-Werbung, dann schreien sie schon mal laut raus: «Ah, Papi, die Werbung hast du gemacht!» Und ich sinke dann tendenziell etwas tiefer in den Sitz.

 

Wie alt sind denn Ihre Kinder, Tobias?

Zehnder: Zwei und fünf. Momentan sehen sie einfach, dass ich den ganzen Tag in Online-Meetings verbringe, also vor dem Computer sitze, dann kommt schon mal: «Papi, du sollst nicht so viel fernsehen.» (lacht)

 

Über Ihre Hobbys habe ich folgendes gelesen, Martin, Sie singen im Chor und Sie, Tobias, setzen auf sichere Werte wie Familie und Wein.

Walthert: Ja, das ist toll mit dem Singen, aber wegen Corona finden momentan natürlich leider keine Chorproben statt.

 

Nicht per Zoom?

Walthert: Nein, ich sitze ja schon den ganzen Tag vor dem Computer, das geht nicht.

Zehnder: Ich muss ganz ehrlich sein, momentan ist wirklich gar nicht viel los ausser Arbeit und Familie. Obwohl das eigentlich schön ist, ist es in diesem speziellen Jahr doch etwas anstrengend.

 

Aber Wein trinken kann man ja grundsätzlich auch in der Corona-Zeit, oder?

Zehnder: Wein trinken kann man, wobei ich das Trinken selbst nicht als mein Hobby bezeichnen würde. Aber ich beschäftige mich sehr gerne mit der Welt dahinter. Ich finde Wein ein enorm spannendes Thema. Wie bringt man einen Ort, eine Landschaft, einen Jahrgang in eine Flasche, und wie macht man es so gut, dass es Jahrzehnte überdauern kann?

 

Was fehlt Ihnen am meisten?

Zehnder: Ich freue mich darauf, wieder einmal mit meiner Frau richtig wandern zu gehen, das ist in diesem Jahr zu kurz gekommen. Oder eine Städtereise.

 

Zum runden Abschluss: Gibt es eine Art Lebensweisheit, die Sie beide durch den Alltag begleitet?

Walthert: Ich versuche, in der Gegenwart zu leben und mich nicht zu sehr in der Zukunft und in der Vergangenheit zu verlieren. Und mich nicht zu sehr aufzuregen über Dinge, die ich nicht ändern kann. Was aber gerade während Corona nicht ganz einfach ist.

Zehnder: Ich habe in der allerersten Woche, als Tom Hanan und ich gerade Webrepublic gegründet haben, in unserem gemeinsamen Büro ein Plakat aufgehängt, darauf steht: Work hard and be nice to people. Das klingt zwar kitschig und etwas abgelutscht, aber für mich hat es nie an Wichtigkeit verloren.

 

Dieses Interview erschien zuerst in der Werbewoche Printausgabe 11-12/2020.

Weitere Artikel zum Thema