dieperspektive – Trend ist out – Kult funktioniert anders

Die Werbewoche hat mit dieperspektive-Redaktor Conradin Zellweger über Leser-generierte Inhalte,ihre Ideologien und über das Konzept von dieperspektive als unabhängige Leserzeitung gesprochen.

In dieser verrückten Zeit braucht die junge Generation ein eigenes Print-Medium, in dem sie ihre Meinungen präsentieren, selber schreiben und fotografieren kann.» Dies war in den 70er Jahren die Überzeugung Othmar Beerlis, Herausgeber des Musenalp-Express. Heute ist das nicht mehr so wichtig, würde man denken, bieten Social-Media- Netzwerke doch genug Plattformen für jegliche Art der Selbstdarstellung. Doch eine fundierte Meinung zu vermitteln, eine eigene Perspektive einzunehmen, ist nicht nur essenziell für politische Meinungsfindung und kulturelle Entwicklung, es braucht dafür auch eine Plattform. Social-Media- Netzwerke scheinen hierfür so Einigen zu beliebig, zu einfach, zu unübersichtlich zu sein. So entstand in Zürich dieperspektive – eine Zeitung für Leser, die gerne einen perspektivischen Schritt weiterdenken und die nach dem Prinzip «vom Leser für den Leser» funktioniert. Offenbar kommt sie vielen auch ziemlich gelegen – zumindest hat dieperspektive bereits seit über drei Jahren Bestand. Die jeweiligen Artikel sollen eine Perspektive bieten, die in den herkömmlichen Medien verloren geht. Auch die Gratiszeitung Blick am Abend hat diesen wiederkehrenden Trend aufgespürt und eine Rubrik «Young Community» gestartet, mit Sprüchen, Päärlifotos und Meinungskontroversen. Bei dieperspektive werden die gesamten Inhalte nur von Lesern geschrieben. Auch das Redaktionssystem ist etwas anders aufgebaut. So werden zwar alle Entscheidung das Blatt betreffend an der Redaktionssitzung getroffen.

Die Sitzung ist öffentlich und jede Entscheidungen muss die Zustimmung aller Teilnehmenden erhalten. Ansonsten wird diskutiert, bis ein Konsens entsteht. Layout und Inhalt entsprechen dann wieder eher einer ernst zu nehmenden Zeitschrift als einem chaotisch-lebendigen Trend-Journal. Mit diversen Podiumsdiskussionen, Literaturabenden und Preisverleihungen gliedert sich dieperspektive wieder ein in eine lebendige Plattform, die aktuellen Trends der politischen Meinungsfindung und kulturellen Entwicklung nachspürt.
 
Alles in allem also eine Plattform für kulturelle und politische Auseinandersetzung, Darstellung und Aufklärung. Doch wie funktioniert diese Plattform für Leser gesamthaft – und vor allem: Was hält die Motivation und die Zeitung über Wasser?

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WW: Wie ist die Idee einer Leserzeitung überhaupt entstanden?
Ich habe allgemein das Gefühl, User Generated Content ist ein Trend, auch in grossen Medienbetrieben mit einzubinden. Zum Beispiel Watson macht das ja auch ganz stark. Die haben eine eigene Rubrik für Leserinput und binden viele Tweets in ihre Texte ein. Mittlerweile hat auch das SRF ein App mit prominentem «Augenzeuge»-Button. Ein gutes Beispiel ist der Unfall mit einem Kran, der zu hoch war, um unter der Brücke hindurchzupassen. Diese Szene wurde auch gleich gefilmt. Das ist eine spezielle und interessante Entwicklung generell. Und wir haben versucht, ein ganzes Heft so zu füllen. Erfolgreich seit dreieinhalb Jahren.

Ist dieperspektive ein Zürcher Stadtmagazin?
Der Schwerpunkt ist eher Stadt Zürich, aber wir haben auch Abonnenten aus diversen urbanen Deutschschweizer Gebieten. Von unseren Lesern sind diejenigen, die Leserbeiträge leisten, auch sonst eher aktiv. Das heisst, sie nehmen an unseren Diskussionen teil, beteiligen sich online mit Beiträgen oder Kommentaren. Wir veranstalten ja auch Podiumsdiskussionen, die alle dazu beitragen sollen, dass sich die Leser nicht nur als Konsumenten verhalten, sondern eben auch aktiv mitmachen. Beispielsweise veranstalten wir zu jeder Abstimmung ein Podium, an dem drei Personen, die nichts mit Politik zu tun haben, teilnehmen. Das sind Philipp Meier (Social-Media-Redaktor bei Watson), Kafi Freitag (Bloggerin) und Rino Borrini (Redaktor beim Punkt Magazin). Sie starten die Diskussion, mit dem Ziel, dass das ganze Publikum mitdiskutiert. Dabei achten wir darauf, dass die Teilnehmerzahl auf rund 20 Personen beschränkt ist. Denn ab 40 Personen wird es schwierig, jeden der will, noch zu Wort kommen zu lassen.

Bestand von Beginn weg die Idee, eine Leserzeitung mit Veranstaltungen zu verbinden?
Ganz am Anfang wollten wir einfach eine lesergenerierte Printzeitung machen. Relativ schnell haben wir dann auch online Beiträge veröffentlicht. Gerade bei Themen, die auch zeitkritisch sind. Die Anlässe haben wir dann vor rund zweieinhalb Jahren, als drittes Standbein, begonnen aufzubauen. Online haben wir nur einzelne Texte der Printausgabe veröffentlicht. Nun haben wir beispielsweise aber auch eigenständige Kolumnen, die nur online erscheinen.

Würden Sie dieperspektive als kulturelle, politische Strömung bezeichnen?
Das ist sicher so. Es ist auch unser Ziel, dass man sich über verschiedene Kanäle bei uns betätigen kann. Wir haben durchaus Leute, die an Diskussionen wie wild an Wortgefechten mitmachen, aber nie einen Text schreiben würden. In welcher Form man sich schlussendlich äussert, spielt uns keine Rolle. Hauptsache man äussert sich in irgendeiner Form. Man kann heute leicht den Eindruck gewinnen, das sei ja bei allen Zeitungen und Plattformen so, dass man sich mit einbringen kann. Das stimmt aber nur bedingt. Meist ist es ein verschwindend kleiner Anteil von Lesern, der sich tatsächlich regelmässig in Kommentaren äussert. Insofern sind wir sicher eine Strömung. Eine Strömung von Leuten, die gerne im Diskurs neue Ideen entwickeln und sich auch nicht von etwas sperrigen und komplizierten Gedankengängen abschrecken lassen. Wir wollen nicht etwas zum Konsumieren sein, bei dieperspektive soll man partizipieren.

Was, denken Sie, motiviert die Leser von dieperspektive sonst, über eine schon relative lange Zeitspanne hinweg mitzuwirken?
Gute Frage – wir haben da keine Marktforschung betrieben. Ich glaube, viele Leute schätzen das Verspielte und Direkte an dieperspektive. Wir probieren gerne mal was aus (z.B. 20-Minuten-Kopie, oder Zürich-Hauptstadt-Initiative) und ecken damit auch mal an. Bei uns hat Perfektion nicht oberste Priorität. Wir machen das halt alle nebenbei. Das merkt man wohl auch als Leser oder Mitschreiber. Ich nehme an, diese lockere Art von uns kommt ganz gut an und wirkt in der teils etwas verkrampften Medienlandschaft erfrischend und hat trotzdem Tiefgang. Dieser Spagat zwischen Verspieltheit und Tiefgang macht’s wohl aus.

Reicht das Ihren Lesern bereits als Motivation? Wie sieht es mit Anerkennung aus?
Anerkennung ist wichtig. Für die meisten Mitmachenden besteht die Motivation darin, seinen Text in einer gedruckten Zeitung zu sehen. Das ist schon noch einmal etwas ganz anderes, als eigene Sätze auf dem Bildschirm zu sehen. Gedruckt verlieren sie die Flüchtigkeit und bekommen etwas so Definitives. Klar, wir versuchen auch sonst, Anreize zu schaffen. Alle Mitschreibenden kriegen ein Abo von perspektive und können kostenlos an unsere Anlässe. Am liebsten würden wir natürlich allen Mitschreibenden noch einen Lohn bezahlen! Aber nur schon für diese Aussage blickt mich unsere Budgetverantwortliche wieder strafend an. Das können wir uns leider (noch) nicht leisten.

Und was motiviert Sie?
Ich studiere jetzt seit sieben Semestern Publizistik und Kommunikationswissenschaften. Das Studium ist so trocken, da bekommt man leicht den Eindruck, die Medienwelt besteht aus einer Handvoll abstrakter Theorien. Bei dieperspektive kann ich mal was ausprobieren. Auch wenn wir ganz eine kleine Zeitschrift sind, wir müssen ja trotzdem jeden Bereich einer Redaktion und eines Verlages abdecken. Das ist extrem spannend und manchmal auch ganz schön fordernd. Gelernt haben wir eigentlich alles nach dem einfachen Prinzip: Probieren wir’s mal aus!

Gibt es bei dieperspektive auch Zensur? Oder nimmt das Redaktionsteam kommentarlos alles auf?
Es gibt relativ selten Texte, die extrem nichtssagend sind, sehr sexistisch oder zu Gewalt verherrlichend. Solche Beiträge publizieren wir natürlich nicht. Ansonsten entscheiden wir aber nicht als Redaktionsteam über die Publikation. Stattdessen haben wir eine öffentliche Redaktionssitzung. Das heisst, alle Interessenten können daran teilnehmen und mitdiskutieren. Ziel ist es jeweils, einen gemeinsamen Konsens zu finden, welcher Text publiziert werden soll. Das heisst, alle müssen einverstanden sein. Ansonsten wird diskutiert, bis wir einer Meinung sind. Alle Beteiligten müssen dahinterstehen können. Schliesslich machen wir alle diese Zeitung freiwillig, niemand verdient daran. Daher ist es umso wichtiger, dass auch jeder mit dem Endprodukt zufrieden ist. An den Redaktionssitzungen beschliessen wir jeweils auch das Thema der Ausgabe. Das Ziel wäre es jedoch, dass auch wieder vermehrt freie Beiträge eingesandt werden, die unabhängig vom Thema entstanden. Solche Inputs würden uns auch gut als Spiegel dienen von unserem Umfeld, um zu erfahren, was den Lesern unter den Nägeln brennt.

Dieser Anspruch erinnert zart an den Musenalp- Express. Der Herausgeber dieser Zeitung war jedenfalls davon überzeugt, dass in der damaligen «verrückten Zeit die junge Generation ein starkes Printmedium braucht, in dem sie sich präsentieren, selber schreiben, fotografieren kann». Und doch stellte sich 1990 der Erfolg nicht mehr so richtig ein, aus dem Heft wurde ein Trend-Magazin und der Name Musenalp-Express verschwand. Wird dieperspektive auch ein Trendmagazin, wenn die Zeit kommt?
Wir versuchen mit allen Mitteln, die Meinung des Lesers als Höchstes zu gewichten. Natürlich würde sich ein Trend-Magazin besser verkaufen lassen, auch was Inserenten betrifft. Aber das ist nicht unser Anspruch. Ein Eingriff unserer Seite ist gar nicht mehr möglich, die Zeitung hat sich schon so sehr verselbstständigt, dass wir nicht einfach die Richtung ändern könnten. Unsere Leser fangen nicht plötzlich an, über den neuesten Cashmere-Pulli vom Globus zu schreiben. Unsere Leser interessiert dies auch nicht – das können wir ja schon im Friday nachlesen. Abgesehen davon würde das auch überhaupt nicht in unser Konzept einer unabhängigen Leserzeitung passen.

Dieperspektive kommt vom Layout her eher ruhig und seriös daher, wenn ich die Zeitung etwa mit dem Magazin Kult vergleiche, das doch schon viel farbiger und lebendiger wirkt. Gibt es einen Grund dafür?
Ursprünglich entstand das aus dem Gedanken heraus, möglichst wenig mit dem Layout den Text zu beeinflussen. Die reine Meinung soll für sich dastehen. Wir wollen nicht durch die Form auf den Einhalt eingreifen. Aber wir versuchen schon auch, das Layout in einem gewissen Rahmen dem Thema anzupassen. Es ist aber schon die Absicht, ein ruhiges Layout zu haben. Die Zeitung hat den Anspruch, dass es nicht nur ums Konsumieren geht, mit möglichst vielen Bildern und Leuchtbalken. Die Texte sind lang und wollen auch mit der entsprechenden Sorgfalt gelesen werden. Wir vermitteln Tiefgang auch wenn es «nur» Lesermeinungen sind. Aber diesen Meinungen soll Beachtung geschenkt werden. Gerade weil diese Leute nicht von Beruf aus schreiben, kommen auch neue Ideen auf. Unsere Autoren haben oft einen anderen Ansatz als ein Journalist, der im jeweiligen Thema bereits versiert und festgefahren ist.

Ist es nicht noch schwierig, mit einem solchen Konzept überhaupt Inserenten zu finden?
Doch. Schwierig und zeitintensiv. Wir machen die Akquise auch selber, ohne Agentur im Rücken. Bis jetzt hat es immer gereicht, um die Druckkosten zu decken. Wir brauchen aber auch nicht mehr als das.

Lieber unabhängig bleiben?
Publi-Reportagen sind bei uns bisher jedenfalls noch nie vorgekommen. Und werden auch nie vorkommen. Das ist natürlich ein No-Go. Es ist zwar auch schon vorgekommen, dass uns eine Firma einen Text geschickt hat. Diese werden jedoch an der öffentlichen Redaktionssitzungen abgelehnt. Es sei denn, der Gedanke ist so interessant und relevant. Aber Sie wissen ja selber, wie die meisten Medienmitteilungen daherkommen. Wir haben im Redaktionsteam schon den journalistischen Anspruch, das nicht zu machen. Obwohl wir unsere Leser diesbezüglich natürlich auch nicht überwachen.

Heisst das, dieperspektive hat doch eine klare Ideologie?
Wir haben je nach Heft 30–50 verschiedene Ideologien, die dahinterstecken. Bei uns im Redaktionsteam haben auch alle eine eigene Ideologie. Einige von uns wünschen sich vielleicht mehr Politik, oder Kunst, bis jetzt hat aber noch nie eine spezifische Ideologie stark überwogen. Aber das verändert sich konstant mit den Leuten, die jeweils dabei sind.

Machen Sie auch Datenanalyse online?
Google Analytics und ein Word-Press-Programm. Diese benutzen wir, aber relativ dilettantisch. Wir schauen nur, was am meisten angeklickt wurde, verwerten die Informationen aber nicht weiter. Wir machen das mehr aus Interesse darüber, was am besten ankommt. Und interessanterweise haben wir online einen grossen Leserstamm, der sich für die Besetzerszene interessiert. Mit diesen Texten haben wir mit Abstand am meisten Reichweite. Warum auch immer. Und Sex sells. Das ist bei uns auch nicht anders. Titel sind natürlich online extrem wichtig. Mir widerstrebt das zwar ein wenig, einen reisserischen Titel zu machen, nur um den Text zu verkaufen. Aber das ist jetzt meine persönliche Ansicht. Ein Titel sollte meiner Meinung nach repräsentativ für den Text sein, Google Analytics hin oder her.

Schalten Sie für dieperspektive online auch Werbung?
Nein, gar nicht. Dafür wäre unsere Website auch noch zu wenig reichweitenstark.
 
Auf Facebook ist dieperspektive auch präsent?
Ja. Aber wir sind nicht so wirklich auf Facebook angewiesen. Selbstverständlich kommt ein grosser Anteil der Online-Leser über Facebook, was ja allgemein immer mehr der Fall ist – Kundengewinn über Social Media. Unsere grösste Diskussionsplattform ist es aber nicht. Wir haben es lieber, wenn man an unsere Anlässe kommt und im kleineren Rahmen persönlich über das jeweilige Thema diskutiert.

Haben Sie schon Pläne wie’s weitergeht? Wollen Sie das Konzept noch ausbauen?
Wir sind jetzt daran, die Printzeitung dicker zu machen. Neuerdings kommt dieperspektive noch alle zwei Monate raus, dafür mit 40 Seiten Inhalt. Das gibt uns auch die Möglichkeit, das Heft qualitativ gut zu gestalten. Was wir sicher machen wollen, ist eine neue Homepage. Besser gesagt einen zeitgemässen Online-Auftritt mit Responsive-Design. Auch wollen wir den Lesern ermöglichen, Texte direkt online stellen zu können. Ausserdem haben wir gerade aktuell einen literarischen Anlass am Laufen, «Treppentexte». Dieser funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Jeder kann kommen, muss sich nicht vorher anmelden und es gibt keine Selektionskriterien. Nur dass natürlich etwa Pfiffe aus dem Publikum schon als Zeichen verstanden werden sollten, vielleicht besser ruhig zu sein. Zu diesem Anlass kommen jetzt bereits 30-40 Personen. Diesen Anlass organisieren wir unter anderem in Zusammenarbeit mit dem Magazin Delirium. Weitere Zusammenarbeiten sind ebenfalls bereits in Planung. So ist mit dem Kuratorium «Lass es raus» ein alternatives WM-Programm geplant. Und im August ziehen wir ins Zentrum Karl der Grosse. Da werden sich bestimmt auch weitere Zusammenarbeiten ergeben. Gerade auch für uns sind solche Zusammenarbeiten extrem wertvoll, um Synergien zu nutzen. Ich bin selber sehr gespannt, wie das alles kommt. Wir bewegen uns so in Richtung einer Community- basierten Plattform, aber im Gegensatz zu den unzähligen anderen Plattformen sind wir hauptsächlich offline.

Ursina Maurer

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