Wir sind eine Zeitung

Libération, Frankreichs emblematischste Zeitung, kämpft um ihr Überleben – und gegen die eigenen Besitzer. Unterstützt wird sie von Intellektuellen und Kulturschaffenden. Von Jürg Altwegg

Gute Restaurants gibt es viele in Paris», spottete Umberto Eco. Auch er griff in die Tasten, um der französischen Libération seine Solidarität zu bekunden: «Aber gute Zeitungen sind rar. Libération ist das Beispiel einer mutigen und freien Presse, es wäre traurig, wenn sich daran etwas ändern würde.»

Den Vergleich mit einem Restaurant hat der geniale italienische Semiologe und Autor des Bestsellers «Der Name der Rose» nicht aus dem hohlen Bauch heraus formuliert. Tatsächlich will Bruno Ledoux, der zusammen mit Edouard de Rothschild als Eigentümer fungiert, die Redaktion aus dem Redaktionsgebäude in Paris verdrängen. Ledoux ist dessen Besitzer, die Zeitung ist bei ihm zur Miete. So kam er zu seinen Anteilen. Er will unter dem Markennamen Liberation ein Kultur- und Modezentrum eröffnen, mit Restaurant, Bar, TV-Studio. Vom «Café de Flore des 21. Jahrhunderts» schwadroniert Ledoux, in Anspielung an das berühmte Bistro, in dem Jean-Paul Sartre nach dem Krieg seine Bücher schrieb.

Sartre war einer der Mitbegründer von Libération, die im vergangenen Jahr ihren vierzigsten Geburtstag feiern konnte. Der harte Kern bestand aus Maoisten, mit denen Sartre nach dem Mai 68 sympathisierte. In Deutschland führte die Revolte in den Terrorismus, in Frankreich versuchten die Aufständischen, die Gesellschaft mit einer Zeitung zu verändern. Alle bekamen den gleichen Lohn. Der Chefredaktor hatte nicht viel mehr zu sagen als die Korrektoren und die Putzfrau. Werbung gab es nicht, sie wurde schleichend eingeführt. Und auf originelle Art und Weise gehandhabt: Einzelne Ausgaben wurden einem einzigen Kunden verkauft. Einmal erschien die Zeitung parfümiert. Ein andermal war sie im Auftrag eines Modeunternehmens aus Stoff. Keine andere Zeitung hat die Entwicklung der französischen Gesellschaft so sehr geprägt und intelligent beschrieben wie Libération.

Mehrmals stand sie am Rande des Ruins. Musste ihr Erscheinen während Monaten einstellen. Aktionäre, die nichts entscheiden durften, wurden an Bord geholt. Es war eine Gegenrevolution, als Edouard de Rothschild das Blatt der Antikapitalisten übernahm – die schon stark vom langen Marsch abgekommen waren. Er hat keine Lust mehr – und seinem neuen Miteigentümer Ledoux fehlt das Geld. Die aufgelaufenen Schulden betragen sechs Millionen Euro. 2013 gab es nach zwei ausgeglichenen Jahren ein Defizit von einer Million. Ledoux hat ein radikales Sparprogramm verordnet und – vorerst vergeblich – versucht, die geringen Löhne um zehn Prozent zu senken.

Den Plan eines von Philipp Starck gestalteten Kulturzentrums mit Galerien und Shops hat die Belegschaft als Kriegserklärung empfunden. Sie veröffentlichte Ledoux’ Projektbeschreibung. Offensichtlich hat der Makler versucht, die Marke Libé herauszulösen – mit dem Vorwand, sie als Bankgarantie für neue Kredite zu hinterlegen. Das hätte ihm erlaubt, die Zeitung für bankrott zu erklären und seinen Plan ohne Print zu verwirklichen. Der Geschäftsführer, der dies verhinderte, musste gehen. Täglich berichtet die Redaktion auf mehreren Seiten von ihrem Kampf ums Überleben und gegen den Besitzer: «Wir sind eine Zeitung» lautet die Rubrik.

Am vergangenen Wochenende gab es einen «Samstag der offenen Tür». Der Zulauf war gewaltig. Die Leser sind kritischer als jene anderer Zeitungen und linker als die Redaktion. Die Auflage ist auf weniger als 100 000 gesunken. Frankreichs Intellektuelle und Kulturschaffende schreiben und unterschreiben für das gefährdete Blatt. Auch Europa schaut auf Paris: «Ohne Libération wäre Frankreich kleinlicher», befindet der frühere englische Europa- Minister Denis Macshane. Er erinnert an Voltaire, Victor Hugo, Zola, Camus und Sartre, deren Bedeutung er mit dem Imperativ «Anders Denken» erklärt. Ihm bleibt die Zeitung verpflichtet, die jeden Tag eine eindrückliche Inszenierung der Aktualität vornimmt: mit eigener Gewichtung und kompetenten Kommentaren.

Libération ist mehr als eine Zeitung, ihr Kampf macht die Bedeutung der Presse für die Öffentlichkeit bewusst.   

Jürg Altwegg ist Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Genf. 

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