Kopf hoch! Halt durch! Hurra!

Emotionalisieren ist einfacher als vertiefen. Denn zur Vertiefung braucht es Hintergrundwissen und Zeit. An beidem fehlt es heute oft. Das ist gefährlich. Von Karl Lüönd, freier ­Publizist und Buchautor.  

Näher, mein Leser, zu dir! Texte aufladen, spannend machen, zuspitzen – das sehen manche Verleger und Journalisten als Überlebensstrategie. Ihre Lage ist ja nicht gerade komfortabel. Online- und elektronische Medien tischen die «breaking news» ab. Gratismedien machen die Grundversorgung mit Nachrichten zur Commodity. Wie sollen es der Verleger und seine Journalisten noch schaffen, den überfütterten Leserinnen und Nutzern so viel Mehrwert zu bieten, dass diese es für zwingend halten, weiterhin jedes Jahr 350 Franken für ein Abonnement zu bezahlen?

Es gibt ein paar Basissportarten, zum Beispiel Lokalisieren, Personalisieren, Emotionalisieren. Letzteres geschieht durch konsequenten Abbau der Distanz zwischen Berichterstatter und Berichtsgegenstand. Je näher man dem betroffenen, ausrufenden, leidenden Menschen kommt, desto schwieriger wird’s mit der Übersichtlichkeit. Halt durch, Lara Gut! Herrlich getanzt, Sarah Meier! Am Ende macht sich der Reporter mit seinem Gegenüber oder mit einer Idee, einer These, einer Initiative gemein. Im Überschwang der Gefühle wird der Berichterstatter gar zum Akteur. Dann kommt es zu Petitionen gegen Kampfhunde, und die Zeitung setzt Belohnungen aus für die Ergreifung eines flüchtigen Täters.

Varietät der Darstellungsformen ist etwas Wichtiges, also kann nicht jede journalistische Darbietung als nüchterner Bericht daher kommen. Doch abgesehen davon, dass gedruckte Emotionen immer ein bisschen papieren wirken werden: Das Kultursystem Zeitung ist eigentlich im Gefolge der Aufklärung entstanden. Es wurde eingerichtet, um den Menschen die Dinge zu erklären, nicht um zu applaudieren oder zu lamentieren. Wohl wurden im 19. und im frühen 20. Jahrhundert manche Zeitungen – denn viele von ihnen waren damals Plattformen der Parteien – auch als Agitationswerkzeuge benützt. Aber diese Funktion hat sich längst erledigt. Dass sie nun im verschärften Wettbewerb um die Aufmerksamkeit wiederkehren soll, hat mit dem Trugschluss zu tun, dass Lautstärke und Wirkung parallel laufen.

Die Alternative wäre die Vertiefung. Aber diese setzt Kenntnisse von Personen, Sachen, Zusammenhängen und Dossiers voraus. Diese Kenntnisse sind in der heutigen Journalistengeneration nicht mehr weit verbreitet – und dies nicht, weil die Kolleginnen und Kollegen dümmer wären. Sie haben einfach die Werkzeuge und den Betriebsstoff nicht mehr, um in den wichtigen Dossiers sattelfest zu sein und damit Gesprächspartner und Fragesteller zu werden, die von den wirklichen Kennern der Materie in den Chefetagen, in den Behörden usw. auch ernst genommen werden.

Der durchschnittliche Schweizer Inland- oder Wirtschaftsredaktor arbeitet heute nach dem Leonardo-da-Vinci-Prinzip: Jeder ein Universalgenie. Morgens Militärpolitik, mittags Hochschule, abends Krankenversicherung. Heute eine lokale Betriebsschliessung, morgen WEF in Davos (ab Ticker, selbstverständlich, denn die Spesen zum Hinfahren sind längst gestrichen worden). Die Kolleginnen und Kollegen kommen kaum mehr dazu, ihre Kenntnisse und Kontakte aufzudatieren. Als Formatierungsfunktionäre verarbeiten sie im Akkord die Arbeit anderer. Sekundärquellen sind die Regel. Inhaltliche Vertiefung wird nur noch vorgetäuscht. In der Lebensmittelindustrie würde man längst von Deklarationsschwindel und Warenfälschung sprechen.

Soeben habe ich nach Jahren einen Kollegen wieder getroffen, der in seinen besten Zeiten eine ganze Stadt mit sensiblen, hochwertigen Bildreportagen über Alltagsthemen bezaubert und später namhafte Zeitschriften und die NZZ-Wochenendbeilage mit ausserordentlichen Reportagen bereichert hat. Er will mit Zeitungen nichts mehr zu tun haben, er macht jetzt Bücher und steht für anspruchsvolle Corporate- Publishing-Projekte zur Verfügung. «Nach und nach haben sie nicht nur die Honorare reduziert, sondern die Spesen gestrichen. Bin ich denn der Sponsor der Verleger?»

Schon klar: Es wird auch ohne diese wunderbaren Reportagen gehen. Die Erinnerung verblasst, und was ich nie kennengelernt habe, vermisse ich eh nicht. Dafür schütten sie einen auf www.newsnetz.ch und www.20min.ch mit diesen doofen Live-Updates zu, die nichts anderes spiegeln als die hektische Ratlosigkeit der Autorinnen und Autoren.
Wie haben wir doch seinerzeit über den Plakat-Slogan des «Blicks» gespottet? «Dabei sein ist gut, drauskommen wäre besser…!»

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