Trübe Aussichten – Pressefreiheit zwischen Facebook und Wikileaks

Die unter dem Deckmantel der Pressefreiheit laufende Zusammenarbeit etablierter Medien mit Wikileaks gefährdet diese. Gastkommentar von Stephan Russ-Mohl, Leiter des Europäischen Journalismus-Observatoriums an der Universität Lugano.

Welche Grossmacht Facebook geworden ist, verdeutlicht ein Video von Time, das derzeit durchs Internet geistert und – nicht zuletzt – in Form von Facebook-Einträgen weitergereicht wird: Minute für Minute werden weltweit beim erfolgreichsten und grössten Social Network 510'000 Kommentare, 232 000 Nachrichten und 136'000 Fotos hochgeladen, rund 383'000-mal der «gefällt mir»-Button angeklickt und 99'000 Freundschaftsanfragen sowie 74 000 Event-Einladungen verschickt – und mit jedem dieser Mouseclicks sammelt der Netzwerkbetreiber kostbare Daten, die es Werbetreibenden ermöglichen, ihre Zielgruppen zusehends ohne Streuverluste zu erreichen. In den USA hat Facebook inzwischen Google überrundet.

Was dem einen «sin Uhl», ist dem andern «sin Nachtigall». Für die alten Medien, nicht nur für das «Holzmedium» Print, ist der Ausblick zum Jahresbeginn eher düster: Die Werbung wandert zwar weiter ins Internet, aber eben kaum zu den Websites, die hochwertigen Journalismus anbieten. Dieser wird weiterhin vor allem von den Abonnenten klassischer Printmedien quersubventioniert – oder, bei öffentlich-rechtlichen Angeboten, vom Steuerzahler zwangsfinanziert, wobei allerdings der Löwenanteil der Konzessionsgelder für teure Soaps, Shows und Sportrechte, nicht aber für Auslandskorrespondenten und journalistische Exzellenz verausgabt wird.

Die bisherigen Versuche Murdochs in Grossbritannien sowie mehrerer Medienunternehmen in Frankreich, Bezahlsysteme einzuführen, gestalten sich erwartungsgemäss mühselig. Die Überzeugungsarbeit, dass unabhängiger Journalismus (und Pressefreiheit!) etwas wert sind und deshalb auch etwas kos¬ten müssen, hat wohl eben erst begonnen. Was in zwanzig Jahren durch Gratisgaben an Zahlungsbereitschaft zerstört wurde, lässt sich nicht in einem Kraftakt in wenigen Monaten «nachhaltig» rückbauen. Zumal diejenigen Verleger, die das beherzt wollen, sich im Gefangenen-Dilemma befinden. Ihre Wettbewerber hoffen darauf, ihre – dann meist mediokren – journalistischen Angebote weiterhin allein werbefinanziert am Markt halten zu können, so lange jedenfalls ganz gewiss, wie die Bezahlschranken der Konkurrenten ihnen weitere Nutzer in die Arme treiben.

Wer in kapitalistischen Raubtiergesellschaften Anzeichen von Schwäche zeigt, muss damit rechnen, dass die Mächtigen nachstossen. So nimmt es angesichts der vielen wirtschaftlich schwächelnden Presse- und TV-Imperien wenig wunder, dass auch die Pressefreiheit zunehmend mit Füssen getreten wird: Nicht nur in China und Russland, wo wir das ohnehin nicht anders erwarten, sondern eben auch in nächster Nähe –in EU-Ländern wie Ungarn, wo ein präpotenter Regierungschef seine Zweidrittelmehrheit missbraucht, um die Medien zu gängeln, und in Italien, wo ein altersstarrsinniger, selbstherrlicher und übermächtiger Medienmogul seinen Posten als Ministerpräsident wohl vor allem deshalb nicht räumen mag, weil er sich ohne den Schutz seines hohen Amtes vom Tag seines Rücktritts an bis zu seinem Lebensende im Visier der Strafverfolgungsbehörden befinden wird. Hilfreich ist es allerdings auch gewiss nicht, wenn angesehene Repräsentanten der «vierten Macht» wie Guardian, Spiegel, Le Monde und El País mit Wikileaks kooperieren, um die diplomatische Routine einer Weltmacht von innen zu zeigen und vor allem um Klatsch in Umlauf zu bringen, statt letztlich Illegales offenzulegen. Den kleinen Unterschied, auf den es ankommt, hat das Reuters Institute in Oxford in Erinnerung gerufen: Was «in the public interest», also wirklich im öffentlichen Interesse ist, gehört an die Öffentlichkeit. Dazu zählen als Klassiker nicht nur die Pentagon Papers, deren Publikation durch New York Times und Washington Post den Anfang vom Ende des Vietnam-Kriegs markierten, sondern auch das Video einer Attacke der US-Army auf Zivilisten in Irak, das Wikileaks vor geraumer Zeit publizierte.

Bei der letzten Wikileaks-Serie konnten indes die Medien allenfalls «the public’s interest» als Motiv für die Veröffentlichung der Geheimdokumente geltend machen. Sie handelten im Interesse einer stets neugierigen Öffentlichkeit – und schadeten damit womöglich dem öffentlichen Interesse der Demokratien und vielleicht sogar der Weltgemeinschaft mehr, als sie ihm nützten. Die bejubelte «Pro Am»-Kooperation, die Zusammenarbeit von Medienprofis mit Amateuren, in der viele Internetgurus die Zukunft des Journalismus sehen, schlug so in «Pro Crime» um, in eine Kooperation von selbstherrlichen Journalisten mit Kriminellen, die beide für sich in Anspruch nehmen, über den Gesetzen zu stehen. Eben eine Zusammenarbeit von Datenhehlern mit Datenstehlern.

So tragen auch die Medien selbst mehr als ein Scherflein zur Demontage der Pressefreiheit bei: Wer mit einem so kostbaren Gut nicht verantwortungsvoll umgeht, braucht sich nicht wundern, wenn es abhanden kommt.

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