Viral Spots – geliebte Epidemie im Internet

E-Marketing Trotz Risiken wegen seiner Skrupellosigkeit wird die jüngste Guerillla-Waffe immer beliebter: der Viral Spot. Mit einem Wettbewerb wollen Snap-Film und Demeulemeester brachliegende Kreativität anzapfen.

E-Marketing Trotz Risiken wegen seiner
Skrupellosigkeit wird die jüngste Guerillla-Waffe immer beliebter: der
Viral Spot. Mit einem Wettbewerb wollen Snap-Film und Demeulemeester
brachliegende Kreativität anzapfen.Die Situation könnte nicht komischer sein:
eine sichtlich verzweifelte zierliche Geschäftsfrau im feinen
Zweiteiler auf der Notfallspur einer stark befahrenen
Autobahnüberführung. Vergeblich versucht sie einen platten Hinterreifen
von ihrem aufgebockten SUV abzumontieren. Zum x-ten Mal reisst und
zerrt sie am Pneu, verliert ermüdet den Halt und das Gleichgewicht und
stürzt rückwärts über die Autobahnbrüstung in die Tiefe, in die
Lademulde eines vorbeifahrenden Lastwagens. Mit lakonischem Sarkasmus
wird der Spot für die Runflat-Reifen von Good Year aufgelöst:
«Reifenwechseln kann gefährlich sein.»

Nicht minder witzig das junge Pärchen, das sich für ein
Schäferstündchen in die Luxuswohnung des Beaus begibt. Im Bett aber
herrscht bei ihm tote Hose. Alle Hilfsmittel seines gut bestückten
Sexspielzeugsortiments verfehlen ihre Wirkung auf seine Virilität.
Schliesslich sieht man ihn siegessicher mit einem Staubsauger bewaffnet
auf die gelangweilte Blondine zutreten. Schnitt: «Keine künstlichen
Zusatzstoffe, nur pure, natürliche Produkte. Nichts anderes.» Absender:
Urtekram, ein dänischer Hersteller von ökologisch-ethischer Kosmetik.

Subversive Community
Zwei unterschiedliche Geschichten, eine Gemeinsamkeit. Beide Spots
wurden weder für den Kino- noch für den TV-, sondern für den viralen
Einsatz im Internet konzipiert und gedreht. «Creativity at its best»,
wie Thomas Weikop, CEO von GoViral, an einem Seminar am Cannes-Festival
sagte. Laut Weikop erreichen virale Spots mittlerweile global über 140
Millionen Menschen. Für die ständig wachsende Reichweite sorgen derzeit
rund 1500 so genannte Konnektoren seiner Verteiler- und Tracking-Firma.
An Effizienz nur schwer zu überbieten, bringen sie die Spot-Lawine
länderübergreifend für Kunden wie Coca-Cola, Playstation oder MTV
innert weniger Tage ins Rollen.

Das Interessante daran ist, dass die elektronische Werbesendung ihren
Empfänger nicht nur sehr gezielt bis in die kleinste Nische anpeilt –
und das zu niedrigen Verteilkosten. Vielmehr unterscheidet sie sich von
der traditionellen, Marketer-gesteuerten Unterbrecherwerbung, weil sie
konsumenten-, sprich: freunde- und kollegengesteuert ist und damit ein
viel höheres Involvement erreicht.

Die neue Herausforderung für die Werbekreativen besteht nun darin,
möglichst unterhaltsam-ausgefallene und segmentgerechte Spots zu
realisieren, sodass die Empfänger diese ihrer Community
weiterverschicken und unbewusst in die Rolle eines glaubwürdigen
Werbers steigen. So tauschen sich immer mehr Internauten persönliche
Markenempfehlungen aus, die lediglich tiefe Schwellen überwinden müssen
und zugleich eine hohe Aufmerksamkeit beim Empfänger erhalten. Und da
sich die Interessenagenden, die Empfindlichkeiten in Sachen schwarzer
Humor und politischer Korrektheit unter Freunden nahezu decken, können
die Macher der Werbefilme davon ausgehen, dass der kommerzielle, meist
Image-bestätigende Inhalt der Nachricht positiv aufgenommen und
weiterverschickt wird. So wie das auch bei der Schweizer
Mary-Woodbridge-Kampagne für den Bergsportausrüster Mammut mit grossem
Erfolg in den neuen wie in den «alten» Medien geschehen ist. Allerdings
war deren Aufhänger die rekordverdächtige Story der fiktiven
85-jährigen britischen Lady, die den Mount Everest bezwingen wollte.
Die mehrheitsfähige Sympathieträgerin stellt eine Ausnahmeerscheinung
unter den Viral Campaigns dar, weil ihre viral verbreiteten
Vorbereitungen am Treppengeländer mit dem nötigen Mediabudget durchaus
den breiten Massen hätte zugemutet werden dürfen.

Gerade das trifft bei den «echten» Viral Spots nicht zu. Sie bewegen
sich im Untergrund, wo sich die Verantwortlichkeiten verwischen und die
Auftraggeber jede Kontrolle über die Botschaften verlieren. Weil sich
Viral Spots oft der Schadenfreude und politischer Unkorrektheit als
Stilmittel bedienen, sind sie auch bei den Werbeauftraggebern offiziell
verpönt. Doch um die eher werbemüden, konsumkritischen jungen Segmente
mit stark selektivem Medienkonsum zu erreichen, bedarf es der emotional
deftigen Werbesprache, die bisher nur von Adbustern gesprochen wurde.
So ist es auch keine Seltenheit, dass Marken, deren Werbestil in
gefakten Spots persifliert und verulkt wird, in diesen sozialen Milieus
an Sympathie gewinnen. Kann solches Material sauber ins Netz gestreut
werden, lassen sich Millionen Klicks und aktive Zuschauer ansprechen.
Eine moderne Version des Mundpropagandaphänomens, das vom uralten
menschlichen Zugehörigkeitsbedürfnis mitgetragen wird.

Trendy Gesprächsthema
Dank immer mehr Breitbandanschlüssen, leistungsfähigeren
Speichermedien, auf Videos spezialisierten Suchmaschinen und
Datenbanken wächst die virale Fangemeinde immer schneller. Auch in der
Schweiz, wo Websites wie Sauhuufe.ch, Boreme.com oder Atomfilms.com
eine immer grössere User-Gemeinde täglich mit neuen schrägen Werbespots
versorgen – bereit zum Herunterladen und «an Kollegen schicken». Und
falls kontroverse Filmchen von Markenverantwortlichen offiziell
gebrandmarkt werden, dann oft auch wegen des zu erwartenden
Medienechos, das rückgekoppelt die Markenbekanntheit weiter erhöht.

Viraler Versand läuft täglich hinaus, aber nur wenigen gelingt eine
breite Streuung. Selbst gekonnte Virals können nur dann hervortreten,
wenn die erste «Saat» in den Content-Bereichen der Seeding-Portale mit
hoher Besucherfrequenz platziert wird, erklärt Thomas Weikop. Um nicht
nach wenigen Ebenen bereits zum Stillstand zu kommen, empfiehlt er eine
kombinierte Platzierung in kommerziellen und nicht kommerziellen Sites.
GoViral beispielsweise streut seine Spots in 27 Ländern rund um den
Erdball in lokalen Sites mit lokalen Verteilern in der lokalen Sprache.
«Mit dieser Art lokaler Vermerke baut man eine globale Kampagne auf»,
sagt Weikop. Eine minimale Anzahl garantierter Views erlaube den
Werbern eine gewisse Planung, ein Budget sowie einen intermedialen
Vergleich.

Die virale Good-Year-Kampagne wurde im März mit drei Spots von der
Londoner Leagas Delaney in fünf Märkten gestartet. Während einer Woche
wurden sie auf 600 Websites gesät – in breiten Unterhaltungs- sowie
fokussierter in Autoforen. Das Resultat war verblüffend: In der ersten
Woche wurden eine Million und während der ersten drei Monate über 5,5
Millionen Views getrackt. Und ein Wear-out-Effekt sei immer noch nicht
festzustellen, so GoViral. Gegenwärtig tauche der Spot auf über 2000
Websites und Blogs auf.

So scheinen die skrupellosen und unverfrorenen Werbeideen, die früher
als abgeschossene Werbekampagnen für Ausstellungen und Buchbänder
gesammelt wurden, eine neue öffentliche Plattform gefunden zu haben.
Immer mehr Firmen lernen mit dieser Art von Basisdemokratie umzugehen
und zum Teil sogar Profit daraus zu schlagen. Um diesem Trend Auftrieb
und Beachtung zu geben, spannten Michael Kindermann, Gründer der
Produktionsfirma Snap-Film, und der selbstständige Creative Director
Jean-Marc Demeulemeester zusammen und hoben mit verschiedenen Partnern
den ersten Viral-Spot-Wettbewerb der Schweiz aus der Taufe.

Der Contest
Die Filmproduktionsfirma Snap-Film in Zürich hat einen Wettbewerb für
Viral Spots ausgeschrieben. Bis zum 24. August 2006 können Ideen zum
Thema «Deo» an die Adresse viralspot@snapfilm.ch gesendet werden.
Angenommen werden Treatments, Storyboards sowie eine kurze Synopsis.
Der Spot sollte nicht länger als 60 Sekunden werden. Aus den
eingesandten Ideen bestimmt die Jury den Gewinner. Dieser wird Ende
September benachrichtigt und (unter anderem in der Werbewoche) bekannt
gegeben. In Zusammenarbeit mit dem freischaffenden Regisseur Luzius
Rüedi wird die Idee realisiert, wobei der Gewinner als Autor fungiert.
Snap-Film übernimmt die organisatorische und finanzielle Seite. Sie
stellt ihr Know-how, Kontakte und technische Mittel zur Verfügung. Der
fertige Viral Spot wird dem Gewinner zur Verfügung gestellt und von
Snap-Film und deren Partner im Internet und anderen Medien
veröffentlicht.

Die Jury
Daniel Comte, Executive Creative Director bei Advico Young &
Rubicam; Ron Eichhorn, Regisseur; Matthias Schlatter, Brand Manager bei
Carlsberg; Jean-Marc Demeulemeester, CD bei Demeulemeester; Michi
Rüegg, Texter; Michael Kindermann, Produzent bei Snap-Film, sowie
Sebahat Derdiyok, Agency Producer bei SFLB.

Luca Aloisi

Weitere Artikel zum Thema