Die neutralen Kreativen

Michelle Nicol und Rudolph Schürmann gehören mit ihrer Agentur Neutral zu einer neuen Generation von Werbeagenturen, die Wert auf Inhalte legen.

Michelle Nicol und Rudolph Schürmann gehören mit ihrer Agentur Neutral zu einer neuen Generation von Werbeagenturen, die Wert auf Inhalte legen. Vor vier Jahren sind sie gestartet: Neutral. Die in unserem Land mit hehren Werten verbundene Bezeichnung hat eine pragmatische Bedeutung. «Wir behandeln jedes Medium und jede Idee gleichwertig.» Dabei weiss Neutral nicht nur auf den feineren Instrumenten zu spielen, sondern holt gelegentlich auch eine Keule aus dem Schrank. «Wir können ziemlich laut sein», meint Chief Creative Officer Rudolph Schürmann. Trotzdem gelten die früheren Glamouringenieure – die Agentur hiess einst Glamour Engineering – als die Agentur mit dem Draht zur zeitgenössischen Kunst. Neutral arbeitet für Kampagnen oft mit Protagonisten aus der Kunstwelt zusammen. «Das sind die aktuellsten Bildermacher», meint Michelle Nicol. Konventionelle Werbung kopiert oft die bildende Kunst. Da arbeite man «lieber gleich mit dem Original». Für Sunrise Mobile Broadband realisiert Neutral dieser Tage etwa einen Spot mit «Mr. Punk» Malcolm McLaren. Der einstige Manager der Sex Pistols ist heute Kultur-Impresario und Filmproduzent.
Und für Bindella terra vite vita wird just ein neuer Internet-Auftritt aufgeschaltet mit fotografischen Sujets von Sam Samore. Die visuelle Reise des US-Künstlers erzeugt für das Gastrounternehmen Emotionen. Das Eröffnungsbild: ein grosses Lippenpaar. Dazu ist ein Making-of-Video mit einem Soundtrack von Step B zu sehen.
Kultur und Medien – diese Verbindung hat Michelle Nicol schon während der Uni zum Spielen gebracht. Zum Thema Mode publizierte sie in Weltwoche, Self Service, Welt am Sonntag. Für «10 vor 10» im Schweizer Fernsehen durfte sie regelmässig von den Modeschauen in Paris berichten. Dabei hat sie ein illustres Netzwerk aufgebaut. Aus diesem hat sich ergeben, dass Neutral heute Cartier International in Paris zu ihren Kunden zählen darf. Ebenso Swarovski – Neutral hat ein Beratungsmandat für ein neues internationales Venture im Bereich Kunst, Mode, Ware.
Noch vor Mode und Tendenzen kommt für Michelle Nicol die Kunst. Ihr war schon Anfang der 90er klar, «dass die Verbindung von Mode und Kunst immer sinnfälliger wird». Und als drittes Element gehört die Werbung zu diesem Konglomerat. «In der transparenten Gesellschaft sind Imitation und Simulation vorbei. Botschaften müssen authentisch sein. Wir wollen echte Geschichte erzählen. Das differenziert uns.» Werden Künstler beigezogen, so ist ihr Beitrag nicht in erster Linie ein Kunstwerk, sondern einfach eine gute Arbeit.
Heute fungiert Nicol bei Neutral als Managing Director. «Wer Ausstellungen realisiert hat, kann auch eine Agentur managen», sagt die Kreative. Erfahrung gesammelt hat sie bei der ersten Berlin Biennale 1998. Als Kuratorin wirkte sie ebenfalls in Bordeaux am CAPC oder bei der Milano Europa 2000. Für das Museum Ludwig in Köln hat sie eine Ausstellung zum Thema Schönheit konzipiert. «Allegorien der Schönheit» war auch das Thema ihrer Lizentiatsarbeit.
Und Rudolph Schürmann? Nach der Wirtschaftsmatura in Luzern hat ihn weder Jura noch St. Gallen interessiert. Mehr lockte ihn die visuelle Kommunikation an der Kunstgewerbeschule Luzern. Anschliessend studierte er in Düsseldorf bildende Kunst und hat «noch den Geist von Joseph Beuys gerochen». Schürmann entschied sich gegen eine Karriere als Künstler, weil er die Schnelligkeit der Werbung schätzt. 
So ist Schürmann, der sich als Kreativer ebenso gerne mit Bild oder Wort ausdrückt, bei der eben gegründeten WHS als Texter eingestiegen. Es folgten Impuls, Young & Rubicam, später Saatchi&Saatchi und schliesslich Euro RSCG. Hier war es seine Mission, «die Agentur auf kreativen Kurs zu bringen». Mit Orange hat Euro RSCG 1999 die «Kampagne des Jahres» gewonnen. Schürmann ist heute noch stolz darauf, dass er damals den Claim «Do You speak Orange?» erfunden hat. Seine verschiedensten Kreativpreise haben dem ADC-Mitglied eine Berufung in die Jury nach Cannes eingebracht sowie auch Eurobest London.
Im Jahre 2000 machte sich Schürmann selbstständig. Bei einer Markenentwicklung für Philip Morris arbeitete er erstmals mit der Freelancerin Nicol zusammen. Das Projekt kam nicht zur Ausführung. Aber man merkte: «Wir können gut miteinander arbeiten.» 2001 wurde die gemeinsame Agentur gegründet. Bei Neutral sind heute sieben Leute angestellt. Zur Zeit wohnt die Agentur in einem «brutalistischen Betonhaus» aus den 60er-Jahren. Die Agentur braucht allerdings Raum für Wachstum. Neutral zügelt deshalb in das Maag-Areal. London oder Berlin standen ebenfalls als Standort zur Debatte, «aber Zürich ist schliesslich im Zentrum von Europa».
Wichtige Kunden von Neutral sind neben Zurich Financial Services, Windsor oder Art Basel auch die FDP Schweiz. Die 1848 gegründete Partei sei «der älteste Brand der Schweiz», meint Schürmann. Die Marke, welche die Schweiz vom Staatenbund zum Bundesstaat brachte. Die neue Kampagne nimmt jetzt wieder zukunftsgerichtete Visionen zum Vorbild mit dem «konstruktiven Schweizerkreuz» als Emblem.
Neutral hat die Dachmarke entschlackt und die Untermarke «Wir Liberalen» eingeführt. «Die wäre später ideal als Parteimarke», meinen die Politwerber.
Für ein ziemlich anderes Publikum arbeitet Neutral mit Sunrise Live. Hier sind für ein junges Publikum Spots mit Rap- und Slam-Poeten gestaltet worden, die ab Mitte Juni das Internet auf dem Handy bewerben. Ähnlich progressiv ist das Pilotprojekt für ein Internet-TV, das Neutral zusammen mit Goldbach Media entwickelt hat. Lifestyle, Kunst und News werden zu «intelligentem Boulevard» verknüpft.
Andreas Panzeri

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