Blinde, Nackte und Hunde

Sex und Bad Taste dominierten die Werbeweltmeisterschaft Cannes ’02 – die Selbstfeier der Spassgesellschaf

Sex und Bad Taste dominierten die Werbeweltmeisterschaft Cannes ’02 – die Selbstfeier der Spassgesellschaft Von Samuel Helbling
Das 49. Werbefestival in Cannes litt unter der Wirtschaftsflaute: Rund 10 Prozent weniger Arbeiten wurden eingereicht. Auch die Delegationen waren nicht mehr so zahlreich erschienen. Doch tat dies dem Werbefest keinen Abbruch. Als einzige Schweizer Agentur reiste McCann-Erickson, Genf, mit einem Silber-Löwen von der Côte d’Azur zurück.
Crash auf Raten, pessimistische Marktstimmung, Konsumenten im Kaufstreik. Angesichts der nicht gerade aufmunternden Konjunkturdaten waren alle gespannt, wie das traditionell pompöse Werbefest im Jahr der Rezession und nach dem 11. September über die Bühne gehen würde.
Zur grossen Überraschung vieler Festivalbesucher haben die Terroranschläge in der Werbung keine deutlichen Spuren hinterlassen. Abgesehen von verstärkten Sicherheitskontrollen und einer kleinen Solidaritätsausstellung für New York («Still shining, New York») in einem unscheinbaren Nebenraum des Palais war die Festivalfreude unbelastet von Vergangenheitsbewältigung. Etwas undankbar war für den neuen Festival-CEO Frank Prenner einzig die Tatsache, dass ausgerechnet in seinem Debütjahr happige Rückgänge bei den Besucherzahlen und bei den Einreichungen zu verzeichnen waren.
Am deutlichsten zeigen sich die aktuelle Befindlichkeit und die vorherrschenden Trends jeweils am Grand Prix (GP): Hier lässt die Jury am meisten Sorgfalt walten und investiert ihren ganzen Ehrgeiz. Mit dem GP will sie herausragende und wegweisende Arbeiten ins Rampenlicht rücken und sich dabei selbst ein Denkmal setzen. Die prestigeträchtigsten GP werden jährlich für die beste Kommunikationslösung in den drei Disziplinen Press, Outdoor und Film vergeben.
Der Press-GP ging an Saatchi &Saatchi, London, für den Reiseveranstalter «Club 18 – 30». Die Sujets zeigen Gruppen junger, leicht bekleideter Menschen in der Freizeit. Durch die Collagentechnik verschwimmen die Motivebenen, sodass auf den ersten flüchtigen Blick sexuelle Posen abgebildet scheinen. «Die Sujets schaffen es, auf hintergründige Art ehrlich zu sein», schwärmte Jury-Präsident Jeff Goodby. Man könne sich mit den einzelnen Anzeigen minutenlang beschäftigen. Und wann schaffe dies heute schon eine Anzeige, gab er sich selbstkritisch.
Den Outdoor-Grand-Prix holte sich Leo Burnett (Oslo) mit einer Reihe von Motiven für ein Piercing-Studio. Die Sujets sind in Nahaufnahme festgehalten, brutal direkt, roh, ungeschminkt. In der Königsdisziplin Film ging der Grand Prix an Wieden+Kennedy aus Portland für ihren Nike-Spot «Tag», eine Art «Fangis»-Fieber, das die New Yorker Passanten auf der Strasse packt. Jury und Publikum feierten den Nike-Spot mit frenetischem Applaus. Dass dabei der junge Mann trotz seiner Nike-Sneakers niemanden einholen kann, störte die Jury nicht, denn es gehe hier, so Goodby, um die Freude am Sport, um gute Unterhaltung und um den Nike-Geist im Spiel.
Unter den ausgezeichneten Gold-Kampagnen befand sich auch eine umstrittene Antiraucherkampagne. Sie zeigt Zwergwüchsige, für die Sex-Heftchen am Kiosk oder die Pissoirschüssel unerreichbar hoch sind. Dazu der Claim: «Smoking causes fatal diseases». Wie der Jury-Präsident diesen Entscheid seinen politisch korrekten Kollegen in den USA erklärt, bleibt sein Geheimnis.
Ein Indiz dafür, dass die Werbung wieder zur Normalität zurückgefunden hat, sah der niederländische Juror Joeri Bakker in der Tatsache, dass Sex und Bad Taste das aktuelle Werbeschaffen dominierten. Sie habe dieses Jahr auffällig viele Sex-Jokes gesehen, pflichtete die deutsche Jurorin Dörte Spengler-Ahrens leicht genervt bei. Und einig waren sich die Juroren querbeet, welche Sujets das diesjährige Festival dominierten: «.» Von diesen Sujets wimmelte es nur so. Dass dieser Trend durch das Festival noch verstärkt werden wird, wurde allgemein befürchtet.
Und die Schweizer Delegation? Sie musste einmal mehr zur Kenntnis nehmen, dass eine Medaille vom ADC Schweiz, Europe oder New York noch lange kein Versprechen für einen Cannes-Löwen ist. Insgesamt schafften es 19 Einreichungen auf die Shortlist, doch davon wurde lediglich die Generali-Anzeige von McCann-Erickson, Genf (siehe WW 24/02), mit den acht Heftklammern versilbert.
Der einzige Schweizer, der in Cannes einen grossen Auftritt gehabt hätte, war Nicolas G. Hayek. Ihm wurde als «Inbegriff des cleveren und innovativen Unternehmens» der renommierte Titel «Advertiser of the Year» verliehen. Doch ausgerechnet am Tag der Preisverleihung war der Uhrenkönig unabkömmlich und liess seine Dankesrede per Tonband einspielen. Mit dicker Zigarre im Mund und verschmitzt von der Leinwand herab lächelnd, nahm er die Huldigung der applaudierenden Werbeschar entgegen.
Film- und DM-Shortlist

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