Denn sie wissen genau, was sie tun

Wir sind heute alle Lebensunternehmer in der «Ich AG», so das Résumé des 5. deutschen Trendtags

Wir sind heute alle Lebensunternehmer in der «Ich AG», so das Résumé des 5. deutschen TrendtagsVon Oliver Classen Immer mehr Menschen begreifen sich als flexible Lebensunternehmer. Was bedeutet dieser Bewusstseins- und Strukturwandel für unsere sozialen, ökonomischen und kreativen Ressourcen? Wie denkt, arbeitet und konsumiert eine solche «Ich AG»? Erste Antworten auf die Frage «Wie wirtschaften im Zeitalter der Ich AG?» lieferte der 5. deutsche Trendtag in Hamburg.
Der längste Eintrag im kürzlich erschienenen «Wörterbuch der Szenesprachen» ist dem Begriff «Warmduscher» und seinen zahllosen Synonymen gewidmet. Warmduscher (vulgo: Spiesser oder Softie) heissen im Trend-slang jene Zeitgenossen, die nicht hart und hip genug drauf sind, um sozial und ökonomisch zu reüssieren. Woraus folgt, dass Erfolgsmenschen heute durchweg eiskalt duschen, im Stehen pinkeln und sich nicht mehr als unbedingt nötig um ihre Umwelt scheren. Alle anderen (Männer) sind «Sitzpinkler», «Rücksichtnehmer» oder schlicht Weicheier. Laut unbestätigten Gerüchten erkennt man diese uncoole Spezies auch daran, dass sie «Milde Sorte» rauchen, «denn das Leben ist schon hart genug».
Bricht nun die Epoche der
Kaltduscher an?
Jugendliche Sprachschöpfungen wie diese sind Seismografen des gesellschaftlichen Wertewandels. An ihnen lässt sich besser noch als an der Mode ablesen, was gerade angesagt ist und was nicht. Diese oft diffusen Tendenzen auf einen prägnanten und möglichst direkt in Marketingstrategien übersetzbaren Begriff zu bringen: Darin sehen das Hamburger Trendbüro und dessen Gründer Peter Wippermann die zentrale Aufgabe der Trendforschung. Am letztjährigen 4. deutschen Trendtag präsentierten Wippermann & Co. mit «Scientification» (Ver-wissenschaftlichung) noch ein Kommunikations- und Produktdesign, das mit Jogurtnamen wie LC1 und silberfarbenen Autos heute schon weitgehend Mainstream und damit out of trend ist.
Die neuste Kreation aus dem 1992 gegründeten Zeitgeistlabor, das auch für oben erwähntes Szenelexikon verantwortlich zeichnet, lautet «Ich AG», was nach obiger Massgabe und ironisch verkürzt etwa so viel wie «Kaltduscher» bedeuten könnte. 350 Werber, Marktforscher und Marketingmanager wollten genauer wissen, wer und was sich hinter dieser blumigen Bezeichnung verbirgt – und kamen zum 5. deutschen Trendtag nach Hamburg, um von neun ausgewiesenen Trendsettern auf den neusten Stand der Konsumwünsche und Kundenbedürfnisse gebracht zu werden.
Immaterielle Qualitäten
entscheiden
Wer konkrete Handlungsanleitungen erwartete, wurde von Norbert Bolz’ Eingangsreferat über die «Wirtschaft des Unsichtbaren» (vulgo: New Economy) zunächst enttäuscht. Der in akademischen Kreisen als Pop-Philosoph verdächtigte Professor für Kommunikationstheorie vertrat die Ansicht, dass der Erfolg von Marken und Produkten künftig viel weniger von deren realer Güte als von virtuellen Qualitäten wie Image und Stil abhängen wird. «Das ökonomische System des Westens befindet sich mitten in einer Umstellung von Substanz auf Funktion, vom Was der Ware auf das Wie der Kommunikation», so Bolz. Ausserdem beobachtet er eine Umkehrung der Verhältnisse von Mittel und Zweck: Suchten bis anhin Leute mit Geschäftsideen (Zweck) nach Leuten mit Kapital (Mittel), so verhalte es sich in der postkapitalistischen Gesellschaft genau umgekehrt.
Diese Einschätzung bestätigte Shobhna Mohn, CEO von Bertelsmann Valley, einem jener Inkubatoren, die Start-ups mit Risikokapital und Know-how auf die Beine zu helfen versuchen. Internet-Jungunternehmer, die auf einen Platz in Bertelsmanns Business-Brutkasten aspirieren, müssen laut Mohn nebst Enthusiasmus und «einer ganz eigenen Story» (vulgo: Geschäftsidee) vor allem die Fähigkeit mitbringen, diese so überzeugend zu erzählen, dass zunächst der Geldgeber und später auch die Kunden sich mit dieser Geschichte identifizieren können. «Erst ein Self-Marketing, das Sinnangebote enthält, ebnet den Weg in die unternehmerische Selbstständigkeit», liesse sich die Devise von Mohn für erfolgreiches New Business zusammenfassen.
Auch für Sebastian Turner von der Berliner Werbeagentur Scholz & Friends weist der gesellschaftliche Generaltrend in Richtung Entrepreneurship. Die Anzeichen dafür bezeichnet der Vater der berühmten FAZ-Kampagne «Kluge Köpfe» als überwältigend: In den Siebzigern noch sei der öffentliche Dienst der begehrteste Arbeitgeber gewesen, in den Achtzigern hätten dann die Blue Chips diese Rolle übernommen und in den Neunzigern schliesslich die Beraterfirmen. Heute hingegen wollen sich bis zu zwei Drittel der Wirtschaftsabsolventen selbstständig machen.
Als weiteres Indiz für den jüngsten Mentalitätswechsel wertet Turner den in der Tat bemerkenswerten Umstand, dass es in Deutschland dieses Jahr erstmals mehr Aktionäre als Gewerkschafter geben wird.
Die galoppierende Ökonomisierung des Individuums stellt auch den Arbeitsmarkt auf den Kopf. Dass Humankapital anders als andere Kapitalformen nicht den Besitzer wechseln kann, zwingt Unternehmen zu einer Neuorientierung, wie sie sich Gewerkschafter wohl nicht mal im Vollrausch erträumt hätten: «Nicht mehr die Kunden sind die wichtigsten Aktiva, sondern die Mitarbeiter», resümiert Turner eine Entwicklung, die durch den Pillenknick noch zusätzlich verstärkt wird.
Schon heute werde ein Pixelpark-Programmierer von der Börse mit 10 Millionen Mark bewertet. Gegen solche Summen für junge «High Potentials» nehmen sich die Ablösesummen für Profifussballer geradezu bescheiden aus.
Selbsterfindung wird
zur Pflicht
Trendbüro-Chef Peter Wippermann eröffnete seine «Von der Deutschland AG zur Ich AG» betitelte Trenddiagnose mit einem Zitat aus dem Schröder-Blair-Papier von 1999: «Wir wollen das Sicherheitsnetz aus Ansprüchen in ein Sprungbrett der Eigenverantwortung umwandeln», heisst es darin zur Zielsetzung von Europas neuer Sozialdemokratie. Dieses politische Programm, das selber Trends setzt statt Traditionen wahrt, hat für den Einzelnen weit reichende soziale und psychologische Konsequenzen. Galt für die «Softindividualisten» (Jahrgänge 1966 bis 1977) noch die blosse Option zur Selbstreflexion, so herrscht für die 1978 oder später geborenen «Ich AG-ler» gemäss Wippermann der Zwang zur steten Selbsterfindung. In einer durch globale Medien und Marken vereinheitlichten Kultur will man sich wieder abgrenzen und abheben. Zur Konstruktion einer markttauglichen Identität, die das emotionale Bedürfnis nach Originalität und Authentizität befriedigt, bedürfe es allerdings eines ausgeklügelten Self-Branding. Mit dieser These variierte Wippermann die schon früher konstatierte allgemeine Individualisierungspflicht, die letztlich in einen «Konformismus des Andersseins» (Bolz) mündet. Diesem Phänomen tragen jene Anbieter Rechnung, die ihre Massenware mit einfachen, aber wirkungsvollen Tricks zu emotionalisieren und personalisieren versuchen.
Massenhafte Massschneiderung
Zwei solche Produkte, die Jugendliche gezielt zur Führung der Marke Ich einsetzen, stellte die eigens aus Los Angeles eingeflogene Dee Dee Gordon vor: den iD-Shoe von Nike und den Schweizer Web-Fashion-Store
skim.com, der seine Waren mit den individuellen E-Mail-Anschriften seiner Kunden versieht. «Style customization» (massgeschneiderter Stil) nennt die Trendpäpstin die Ablehnung vorgefertigter Markenartikel und den neuen Spass am Selbstgestalteten. «Just-for-me-Produkten gehört die Zukunft – und die hat längst angefangen», weiss Gordon aus ihrer Feldforschung, die 500 Kids weltweit für ihre Trendagentur LookLook durchführen. Soll heissen: Konsumenten sind weniger an den Produkten selbst als an der Kommunikation darüber interessiert.
Eine ähnliche Formulierung desselben Befunds hatte das illustre Publikum Stunden zuvor schon von Norbert Bolz gehört. Diese Wiederholung lässt zwei Schlüsse zu: Entweder sind Trends wie dieser so «hot», dass sie an einer solchen Tagung zwangsläufig mehr als einmal auftauchen. Oder aber Trends werden durch solche an Beschwörungsrituale erinnernde, formelhafte Repetitionen erst geboren. Die Veranstalter dürfte es indessen so oder so freuen, dass ihre «Ich AG» – die von Spiegel bis FAZ bereits ohne Anführungszeichen zitiert wird – inzwischen Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden hat. Die Karriere des Warmduschers hat schliesslich auch einmal so angefangen.

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