Die Taschenspieler und Illusionisten haben ausgetrickst

Mit mathematischen Formeln lässt sich die Halbwertszeit der Werbung messen – allerdings warnen Fachleute auch vor der Gefahr einer Genauigkeitsillusion

Mit mathematischen Formeln lässt sich die Halbwertszeit der Werbung messen – allerdings warnen Fachleute auch vor der Gefahr einer GenauigkeitsillusionVon Wolfgang Koschnick Accountability in Advertising ist heute ein allgemein anerkannter Wert – wie Gutherzigkeit und Wohltätigkeit. Alle sind dafür. Aber wenns konkret wird, fallen jedem tausend Gründe ein, weshalb das in diesem Einzelfall nun gerade nicht geht…
Accountability ist kein in sich geschlossenes Konzept, das man nur zu befolgen braucht, um jede beliebige Werbekampagne kalkuliert zu bekommen. Eher ist sie ein allgemeiner Appell: «Leute, macht jeden Schritt, den ihr in der Werbung tut, so gut berechenbar wie möglich. Dann kann relativ wenig passieren.»
Unabdingbar ist eine detaillierte Formulierung von Unternehmenszielen. Daraus resultieren wiederum die Marken- und die Marketingziele. Aus diesen die Ziele der Marktkommunikation. Und hier setzen alle Bemühungen um Accountability ein. Es gibt sechs Gruppen von Unternehmenszielen, die Marktkommunikation unterstützen soll:
• Absatz-, Umsatz- oder Marktanteilszuwächse;• Umfang und Art der Marktreaktion;
• gesteigerte Wertschöpfung oder höherer Preis, damit andere Aktivitäten mehr leisten;
• Einstellung, Leistung und Motivation der Mitarbeiter;
• breitere Distribution;
• Einführung eines neuen Produkts, Probierkäufe, Wiederkaufrate.
Die Debatte über die Accountability in Advertising (siehe auch WW 18/00) wurde in Grossbritannien vom Marketingberater Simon Broadbent geprägt. Charakteristisch für seine Vorstellungen von Berechenbarkeit der Werbung ist wohl, dass er keine Karriere als Marktforschungs- und Werbeberater hinter sich hat.
Für die konsequente Nutzung von möglichst vielen Daten
Broadbent ist Ingenieur und Doktor in mathematischer Statistik. Er ist Gründer des britischen Advertising Effectiveness Award und arbeitet seit über 30 Jahren für Leo Burnett. Im Mittelpunkt seines Interesses stand stets der rationale Einsatz von Werbegeldern. Er hat drei wichtige Bücher geschrieben: «Spending Advertising Money», «The Advertising Budget» und schliesslich «Accountable Advertising», dessen deutsche Übersetzung mit dem Untertitel «Wie sich Werbung rechnet» 1999 bei Econ erschien (siehe Kasten S. 23).
Broadbents Buch – und damit auch sein Konzept für Accountability – plädiert für die konsequente Nutzung so vieler Daten wie möglich. So steht am Anfang aller Accountability ein Markenaudit. Darunter ist eine im Rahmen der Marketingkontrolle periodisch durchgeführte systematische und umfassende Überprüfung des gesamten Marken- und Marketingsystems eines Wirtschaftsunternehmens zu verstehen. Es zielt darauf ab, die Problembereiche und Entwicklungsmöglichkeiten sowie die Korrekturmassnahmen zur Verbesserung der Markenleistung aufzudecken. Dafür gibt es vier Hauptgründe:
• Man muss die Stärken und Schwächen einer Marke überprüfen und den Markenkern als allgemeine Richtlinie für das Management formulieren.
• Man kann den Markenwert ermitteln, beispielsweise zur genauen Beurteilung der Investitionsrendite der Marketingfunktion.
• Man kann in einer Marktanalyse anhand verfügbarer Daten die Position einer Marke in einer Produktgruppe bestimmen.
• Man kann die Marke als Instrument zur Verbesserung der Strategien, zur Verteidigung und zur Akquisition einsetzen, indem man ihr einen finanziellen Wert zuschreibt.
Auf dieser Basis lässt sich sodann das Marketingbudget berechenbar machen. Die Differenz zwischen Umsatz und variablen Kosten ergibt den Deckungsbeitrag I: Umsatz minus variable Kosten gleich Deckungsbeitrag I.
Je höher die Marketingkosten, desto geringer der Gewinn
Zieht man vom Deckungsbeitrag I das festgelegte Marketingbudget ab, erhält man den Deckungsbeitrag II: Deckungsbeitrag I minus Marketingbudget gleich Deckungsbeitrag II. Dann werden die Fixkosten abgezogen, um den Gewinn zu ermitteln: Gewinn gleich Deckungsbeitrag II minus Fixkosten. Diese Rechnung geht auch umgekehrt auf: Zieht man die Fixkosten und andere Kosten vom Deckungsbeitrag I ab, steht der Rest für Marktkommunikation und für den Gewinn zur Verfügung; denn das Budget kann auch so ausgedrückt werden:
• Deckungsbeitrag I gleich Umsatz minus variable Kosten oder • Deckungsbeitrag I gleich Fixkosten plus Kommunikation plus Gewinn oder
• Umsatz gleich variable Kosten plus Fixkosten plus Kommunikation plus Gewinn.
Danach also ist die Marketingkommunikation nichts anderes als ein weiterer Kostenfaktor. Je mehr man dafür ausgibt, desto geringer fällt der Gewinn aus. Das Streben nach Accountability bedeutet mithin nichts anderes als den Wunsch, die Kosten für Marketingkommunikation zu senken, um den Gewinn zu steigern.
Auch aus diesem Grunde empfiehlt es sich, die Gewinnschwellen-Elastizität sowohl für den Preis als auch für die Kommunikation (Werbung) zu berechnen. Die beiden Gewinnschwellen-Elastizitäten geben an, wie leicht oder auch wie schwer es fällt, die Erhöhung von Werbeaufwendungen oder von Preisen zu rechtfertigen. Um nun die Wirkung von Kommunikationsmassnahmen zu beurteilen, bieten sich drei verschiedene Verfahren an:
• Einfache Vergleiche, durch die untersucht wird, was geschehen wäre, wenn gar keine Kommunikation stattgefunden hätte.
• Mathematische Modelle, in denen andere Faktoren berücksichtigt werden, die das Ergebnis beeinflusst haben könnten. Dabei wird deren Wirkung ebenso beurteilt wie das, was über die Kommunikation erreicht wurde.
• Tests: Dabei werden alternative Massnahmen getestet.
Simon Broadbent hat ein mathematisches Modell der Werbewirkung entwickelt, das in der angelsächsischen Welt praktisch mit allen Vorstellungen über Accountability in Advertising identifiziert wird, das so genannte Adstock-Modell. Es stammt aus dem Jahr 1979. Als Broadbent es entwickelte, sprach man noch nicht von Accountability – jedenfalls nicht in der Werbebranche. Der Begriff ist eine Abkürzung für Advertising stock und bezeichnet den «derzeitigen Werbebestand». Er ist Grund- und Ausgangsterminus eines ökonometrischen Werbewirkungsmodells und fasst die Gesamtheit vergangener und gegenwärtiger Werbewirkungen zusammen.
Halbwertszeit von Werbung mit Radioaktivität vergleichbar
Adstock stellt die Kumulation aller bisherigen und der gegenwärtigen Wirkungen von Werbung dar und repräsentiert so den zu einem je gegebenen Zeitpunkt insgesamt wirkenden Werbedruck (üblicherweise ausgedrückt in GRPs). Es handelt sich um ein in der ökonometrischen Werbewirkungsforschung übliches Mass, das auch das Nachlassen der Werbewirkung (den Advertising wearout oder auch die Advertising decay rate) berücksichtigt.
Ihm liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Werbung nicht nur zum Zeitpunkt wirkt, in dem sie gesehen wird. Broadbent geht davon aus, dass die Wirkung von Werbung im Zeitverlauf konstant nachlässt. Die Halbwertszeit der Werbung ist also wie beim radioaktiven Verfall geometrisch. Für jeden Schritt der Analyse bietet das Buch von Broadbent eine Fülle von Formeln, mit deren Hilfe Werbewirkung berechenbar wird.
Accountability bleibt trotz allem ein Budgetierungsansatz
Die Frage ist zulässig, ob eine Vielzahl von Formeln bereits den sehr individuellen Fall jeder konkreten Werbekampagne wirklich berechenbar macht? Man sollte nie vergessen: Accountability in Advertising ist vor allem ein Budgetierungsansatz. Es zielt nicht vorrangig darauf ab, den gesamten Prozess der Werbewirkung durch und durch berechenbar zu machen. Es will lediglich Kriterien für das Controlling von Budgets formulieren.
Lässt sich erst einschätzen, welche der möglichen erklärenden Faktoren von Werbewirkung tatsächlich Einfluss ausüben, kann man davon ausgehen, dass Käufergewohnheiten die bekannten Wirkungen bisheriger Werbung und das Produkt selbst die wichtigsten Determinanten des Markenanteils sind. Dies lässt sich als Markenwert (Brand equity) messen. Jedoch erst, wenn zusätzlich Preis, Promotions- und Distributionskosten berücksichtigt sind, werden die kurzfristigen Wirkungen der Werbung deutlich erkennbar.
Im nächsten Schritt passt man ein numerisches Modell an, das dem gedanklichen Modell entspricht. Damit soll eine einleuchtende Erklärung gefunden werden, die das Ausmass von Wirkungen zufrieden stellend belegt. Im Idealfall können bei mehreren möglichen Erklärungen alle bis auf eine ausgeschlossen werden. Die internen Daten aus der Kosten- und Leistungsrechnung werden ins Marktmodell integriert.
Werbung ist der «Eintrittspreis» für Geschäftsaktivitäten
Die entscheidenden Einnahmen und Kosten hängen mit den Variablen des Modells zusammen, so dass sich die Rentabilität der jeweiligen Aktivitäten einschätzen lässt. Mithin kann man aufdiese Weise darlegen, ob die ursprünglichen Ziele erreicht wurden und welche Kosten dabei anfallen.
Oft genug dürfte sich dabei auch zeigen, dass Werbung einfach ein Teil des «Eintrittspreises» für geschäftliche Aktivitäten ist und sich nur so «bezahlt» macht. In jedem Fall werden auf diese Weise die Marketingaktivitäten im Sinne der Accountability of Advertising berechenbar gemacht.
Warnung vor einer
Genauigkeitsillusion
Das Broadbent’sche Accountability-Modell stellt einen beachtenswerten Versuch dar, den «multizeptiven Kausalfilz der Werbewirkung» – wie der deutsche Marktforschungsberater Peter Beike das Modell ironisch nennt – mit einer Reihe von allgemeingültigen Daumenregeln voll in den Griff zu bekommen. Sofern es auf das Plädoyer hinaus läuft, genaue Zahlen und Daten zu verwenden, ist es gewiss begrüssenswert.
Gross scheint darum die Gefahr zu sein, mit einer Vielzahl von Formeln und Zahlenkunststücken Genauigkeitsillusionen zu erzeugen, die in der Wirklichkeit so gut wie niemals eingelöst werden können.
Während die praktische Mediaforschung vorerst nur mediatechnische Zahlen über Kontaktchancen der Werbeträger liefert, stellen ja erst die Wirkungschanchen der Werbemittel Voraussetzungen für möglichst hohe Renditen dar.
Mediagewichtungen können auch gefährlich sein
Solange sich jede einzelne Aufgabenstellung in der Mediaplanung von der anderen unterscheidet und einer individuellen Lösung bedarf, gilt das Diktum des österreichischen Media-Altmeisters Franz Alexander Späth: «Accountability ist ein hohes, verständliches Ziel der Mediaplanung – in Ausnahmefällen möglicherweise auch zu erreichen. Generalisierende Mediagewichtungen sind aber nicht nur eine wirkungslose Therapie, sondern auch gefährlich: weil sie mit der trügerischen Hoffnung auf Sicherheit in die falsche Richtung führen können.»

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