Martina Hingis: «Ich habe immer an mich geglaubt»

Martina Hingis ist eine der erfolgreichsten Tennisspielerinnen in der Geschichte der Sportart. Ihr Schlüssel zum Erfolg? Mut, Ehrgeiz, Spass und der Glaube an sich selbst.

(Illustration: Silvan Borer)

m&k: Martina Hingis, das Tennis hat Sie von frühester Kindheit an begleitet – es gibt das Gerücht, Sie hätten sich bereits auf einem Schläger abgestützt, als Sie noch nicht einmal richtig laufen konnten. Stimmt das?

Martina Hingis Ja, wahrscheinlich schon (lacht). Ich kann mich an die ganz frühen Jahre natürlich nicht erinnern, aber ich bin auf dem Tennisplatz aufgewachsen: Meine Mutter war Profispielerin in der Tschechoslowakei und ich war beim Training immer dabei. Es gibt Fotos von mir zwischen den Schlägern und Bällen, am Rand des Courts, mit meinen Spielsachen. Ich denke also, das Gerücht stimmt.

 

Was ist Ihre erste bewusste, eigene Tennis-Erinnerung?

Meine Mutter und ich kamen 1988 aus der Tschechoslowakei in die Schweiz. Weil ich so viele Tennisturniere wie möglich spielen wollte, es hier damals aber keine Kinderkategorie gab, stand ich schon als junges Mädchen mit Schweizer Hausfrauen auf dem Platz (lacht) – ambitionierte Amateurspielerinnen sozusagen. Die haben dann oft gesagt: «Wie süss!», oder: «Man sieht dich ja kaum hinter dem Netz!», und wollten mir zuspielen. Damit haben sie aber schnell aufgehört, als sie gemerkt haben, dass ich immer gewinne.

Hatten Sie mit acht, neun Jahren schon den sportlichen Ehrgeiz, der Sie später an die Tennis-Weltspitze geführt hat?Wenn ich auf einen Platz gegangen bin, dann wollte ich immer gewinnen. Deswegen habe ich ja so gerne Matches und Turniere gespielt: Ich wollte mich mit anderen messen, und jeder Sieg hat mir Freude gemacht. Wissen Sie, ich hatte immer ein hartes, sehr gutes Training, weil meine Mutter mich nach Profi-Standards ausgebildet hat. Die meisten Spiele, die ich bestritten habe, fühlten sich dadurch entspannter an als mein reguläres Training. So konnte ich mich in den Matches darauf konzentrieren, verschiedene Strategien auszuprobieren, mich auf meine Gegnerinnen einzustellen – oder alternative Pläne zu entwickeln, wenn die ursprünglichen Ideen nicht funktioniert haben. 

Daraus nehme ich zwei Lektionen für das Leben mit: dass man sich besser auf mehr vorbereitet, als einen vielleicht tatsächlich erwartet – und dass man nicht nur einen Plan A, sondern auch einen Plan B und einen Plan C hat.

Der amerikanische Leichtathlet Ed Moses hat mir mal erzählt, wie er neun Jahre, neun Monate und neun Tage lang ungeschlagener Weltmeister im 400-Meter-Hürdenlauf blieb: Er hat, so sagte er, immer für den 800-Meter-Lauf trainiert! (lacht) Ed meinte: «Weisst du, Martina, wenn ich die 800 Meter durchziehen kann – dann sind die 400 Meter ja ein Kinderspiel!» Und zu dem zweiten Punkt: Ja, ich hatte zu meinem Plan A auch immer einen Plan B oder Plan C. Meiner Mutter war im Training ganz wichtig, dass ich taktisch wie technisch breit aufgestellt bin. Das vermisse ich im aktuellen Damentennis oft ein bisschen – meine Generation hat mehr Wert auf strategisches Geschick und ein breites technisches Repertoire gelegt. Ein grosser Match ist oft auch ein Abtasten, ein Abwarten: Da stehen Sie einer der Williams-Schwestern gegenüber und müssen den Moment erwischen, wo sie eine Schwäche zeigt; müssen präzise sein, wo sie sich eine Ungenauigkeit erlaubt; müssen eine Idee haben, die sie nicht hat.

 

War Ihnen eigentlich immer klar, dass Sie eine professionelle Tennisspielerin sein möchten? Oder gab es auch andere Karrierewünsche?

Weil ich so früh Erfolge erleben durfte, hat sich das – verselbstständigt. Ich habe meine ersten Schweizer Meisterschaften mit zwölf Jahren gewonnen, ebenso die Jugendturniere in Paris und Wimbledon. Ein steiler, schneller Aufstieg. Und dann wollte ich mehr.

 

Und Sie bekamen mehr: 1996 wurden Sie die jüngste Grand-Slam-Siegerin in der Geschichte des Tennis, als Sie – gerade einmal fünfzehn Jahre und neun Monate alt – mit Helena Suková in Wimbledon das Damen-Doppel gewannen. Haben Sie im Rahmen solcher Weltturniere nicht einen unglaublichen Druck empfunden?

Nein – das war ja eigentlich das Schöne daran! Als ich jung war, habe ich mich mit dem Druck gar nicht so auseinandergesetzt, und zwar aus zwei Gründen: Einerseits hatte ich das Glück, dass ich die meisten meiner Gegnerinnen bei den grossen Turnieren schon vorher anderswo geschlagen hatte. Ich dachte also zum Beispiel: Warum soll ich sie hier in Miami nicht besiegen, ich habe doch in Hamburg schon gegen sie gewonnen!? Und ich war überzeugt, dass ich Zeit habe: Wenn ich dieses oder jenes Turnier nicht gewinnen würde, dann könnte ich ja ein Jahr später zurückkommen und es nochmal versuchen. Das war mein Mindset.

 

Ich finde, das passt hervorragend zu dem Motto des Events, an dem Sie im November Stargast sind – der DirectDay läuft ja unter dem Titel «Bold is Gold!». Und so beschreiben Sie Ihre Karriere: Sie waren ehrgeizig, hatten aber auch Spass und haben ganz fest an sich geglaubt.

Ja, ich habe mich immer auf mein Spiel verlassen können. Ich wusste auch in Situationen, wo ich mal hinten lag oder unter Stress stand: Ich beherrsche den nächsten Schlag, ich werde meine Leistung abrufen. Selbstzweifel waren kein Problem, unter dem ich – gerade in meiner «ersten Karriere» – gelitten habe. Klar, niemand gewinnt jedes Spiel, hat immer einen guten Tag. Aber ich habe in jedem Moment mit der Überzeugung agiert, dass ich den nächsten Punkt machen kann – machen werde.

 

Wie schützt man das von Ihnen beschriebene Selbstvertrauen, wenn man doch einmal eine Niederlage erleidet – vielleicht bei einem Match oder einem Turnier, das einem sehr wichtig war?

Mir hat es immer geholfen – und das lässt sich, denke ich, auf viele Bereiche des Lebens übertragen –, hinterher zu analysieren, was nicht funktioniert hat oder welche externen Faktoren mit in das Ergebnis hineingespielt haben. Wenn ich gegen eine der Williams-Schwestern verliere, die mit all ihren Muskeln und ihrer enormen Grösse auf der anderen Seite des Netzes stehen, dann weiss ich: Ich muss meine Kondition und meine Kraft noch besser trainieren, um die physischen Unterschiede beim nächsten Mal zu kompensieren. Und manchmal muss man auch einfach akzeptieren, dass alles «zu viel» ist: Mir ist einmal bei den Australian Open bei fünfzig Grad Aussentemperatur die Puste ausgegangen, okay, das ist … salopp gesagt … scheisse, aber das muss man dann abhaken.

 

Als ganz junge Spielerin, sagten Sie vorhin, hätten sich die Dinge «verselbstständigt». Später in Ihrer Karriere mussten Sie aber ganz bewusste, mutige Entscheidungen treffen: Die Comebacks 2006 und 2013 waren bewusste Schritte, die nicht ohne Risiko für Ihre Reputation und Ihre «Legacy» waren …

Bei meinem ersten Comeback 2006 habe ich mich gefragt: «Wenn ich es jetzt nicht noch mal probiere, werde ich mir das dann vielleicht bis an mein Lebensende vorwerfen?» Also habe ich es gemacht. Aber natürlich hatte ich jetzt mehr Angst, zu versagen, als früher – ich wollte mich schliesslich nicht blamieren. Niemand hat mich nach meinem ersten Rücktritt 2003 gezwungen, auf den Platz zurückzukehren. Ich wusste: Wenn ich das tue, dann verstehen die Leute, dass ich das selbst will. Und dann muss ich abliefern. Zum Glück habe ich das geschafft (lacht). Ich hatte tolle Matches, grosse Turniersiege, ehe dann 2007 wieder Verletzungsprobleme auftraten. Und das zweite Comeback 2013 … ehrlich gesagt, das war überhaupt nicht geplant! Ich wollte eigentlich nur noch coachen. Aber dann hat zuerst Daniela Hantuchová gefragt, ob ich mit ihr in Carlsbad auf die WTA-Tour zurückkehren will – und dann habe ich mit Sabine Lisicki das Sony-Open-Turnier im Doppel gewonnen. Wir können hier jetzt nicht ins Detail gehen, weil die Historie der Spiele, die dann folgten, zu viel Platz einnehmen würde – aber im Januar 2016 hatte ich, erstmals seit fast sechzehn Jahren, wieder die Nummer-1-Position der WTA-Doppel-Weltrangliste, zu­sammen mit Sania Mirza. Eine schöne Zugabe für das zweite, total un­geplante Comeback, oder? (lacht)

 

Wieder ein Learning für mich: Es kann sich lohnen, sich auch mal selbst zu überraschen.

Das ist es eben. Manchmal gibt es Situationen, Wendepunkte im Leben, an denen sich vieles entscheidet – und deren Bedeutung man nicht hätte voraussehen können. Man muss sich einfach trauen.

 

Wie wichtig waren eigentlich Ihre Konkurrentinnen für Sie? David Coulthard, der vor zwei Jahren am DirectDay auftrat, sagte mir einmal, das Duell mit Michael Schumacher habe ihn zu einem besseren Rennfahrer gemacht. Hatten Sie Rivalinnen, die Ihr Spiel verbessert haben?

Ich bin gleich alt wie Venus Williams und ein Jahr älter als Serena Williams. Ich war als Juniorin besser und auf einem viel höheren Niveau unterwegs, aber dann haben die beiden nach­gezogen – und wenn wir uns getroffen haben, dann waren das schon Matches, wo ich für mich viel mitgenommen habe. Das erste US-Open-Spiel gegen Venus – ich gebe das ehrlich zu – war wohl auch das erste Mal, dass ich vor einem Spiel nicht so gut geschlafen habe (lacht). Aber ich habe gewonnen. Gegen Gleichaltrige verliert man nicht, habe ich mir damals gedacht.

 

Sportliche Exzellenz pusht und verstärkt sich also wechselseitig?

Wirklich lustig ist es nicht, regelmässig gegen solche Menschen zu spielen, weil es wahnsinnig viel Kraft kostet. Aber es waren sicher die besten Matches, die ich damals gemacht habe. Den Effekt, von dem Sie sprechen, hat man ja auch im Herren-Tennis der vergangenen Jahre gesehen: Federer, Nadal und Djokovic haben sich aneinander abgearbeitet – und immer wenn einer besser war, haben die anderen trainiert, um aufzuholen. Und die Matches wurden immer unglaublicher.

 

Roger Federer ist gerade zurückgetreten, Nadal und Djokovic liebäugeln laut einschlägigen Medien mit einem ähnlichen Schritt für 2023 oder 2024. Wenn man selbst Teil einer «Tennis-Generation» war, so wie Sie, ist es dann seltsam, eine solche Generation abtreten zu sehen?

Ich möchte überhaupt nicht arrogant klingen, aber das Damen-Tennis in den Spitzenjahren meiner Karriere, das war doch eine wirklich tolle Zeit, eine tolle Generation von Spielerinnen. Venus und Serena, die die USA repräsentiert haben. Mary Pierce aus Frankreich. Conchita Martínez aus Spanien. Ich könnte jetzt noch mehrere Personen aufzählen. Was ich sagen will: Alle brachten ihre Fans mit, ihren besonderen Stil, waren … Unikate. Und wenn das endet, dann ist das natürlich mit einer gewissen Melancholie verbunden.

 

Wie haben Sie die Transformation vom Spitzensport zurück in einen «normalen» Alltag erlebt?

Ach, ich glaube – jeder Mensch, der einen Job gemacht hat, der ihm wichtig war, egal, ob als Managerin, als Anwalt oder eben als Tennisspielerin, spürt nach dem Ende der Karriere einen Einschnitt. Dann muss man etwas Neues finden, das einen erfüllt. Bei mir ist es sicher meine Familie: Ich habe eine kleine Tochter, die für mich das Wichtigste auf der Welt ist. Das schönste Geschenk, das das Tennis mir gemacht hat, ist die Zeit, die ich jetzt mit ihr verbringen kann. Und ich gehe regelmässig in die Tennishalle meiner Mutter und unterrichte die Kids dort. Wir haben aktuell eine 14 Jahre alte Spielerin bei uns, die in ihrer Altersklasse Weltranglistenerste ist und deren Fortschritte ich seit fünf Jahren beobachte. Das sind andere Glücksgefühle als damals bei meinen eigenen Spielen, aber es ist auch wunderschön.

 

Wenn Ihre Tochter eines Tages den Wunsch äussern würde, Tennisprofi zu werden …, würden Sie das unterstützen?

Ja gut, wenn es ihr Wunsch wäre, dann würde ich das ganz sicher unterstützen. Aber das würde ich auch bei allen anderen Wünschen und Plänen, die sie hat. Geben wir ihr vielleicht noch ein bisschen Zeit für die Entscheidung, sie ist ja erst dreieinhalb Jahre alt (lacht).

 

Sie treten unwahrscheinlich sympathisch und bodenständig auf. Dennoch möchte ich etwas betonen und damit meine letzte Frage einleiten: Sie sind eine der erfolgreichsten Tennisspielerinnen in der Geschichte Ihrer Sportart. Sie haben alles erreicht, was man in Ihrer Disziplin erreichen kann. Was würden Sie Menschen raten, die ebenso wie Sie grosse Träume haben, und diese verwirklichen wollen?

Man muss seine Leidenschaften einfach ausleben und dann das Ziel oder die Pläne, die man hat, konsequent verfolgen. Das sagt sich sehr leicht, aber wir alle wissen, wie das Leben manchmal spielt. Wie man Ziele aus den Augen verlieren oder vom Weg abkommen kann. Dass man Träume opfert, weil einem die Realität einen Strich durch die Rechnung zu machen scheint. Ich sage aber: Seine Träume muss man festhalten, mit aller Kraft. Und man muss sich ein Umfeld schaffen, das einen unterstützt: eine Familie, Freunde, die einen für ein Stück des Weges begleiten. Und, das vielleicht noch zum Abschluss: Es hilft, realistisch zu sein. Ich wollte die kantonalen Meisterschaften in der Schweiz gewinnen, danach dann die nationalen Meisterschaften … So sahen meine ersten Ziele aus. Wimbledon kam erst später.


Direct Day 2022: Das Interview mit Martina Hingis fand im Run-up zum Direct Day 2022 statt. Dort wird sie am 15. November passend zum Motto «Bold is Gold» über die Highlights ihrer Karriere sprechen. Jedes Jahr veranstaltet Post Advertising diesen führenden Event der Dialogmarketing-Branche; dieses Mal neu im Kongresshaus Zürich. Sichern Sie sich jetzt letzte, verbleibende Tickets


Martina Hingis (* 30. September 1980) ist eine ehemalige Schweizer Tennisspielerin. Als Kind zweier Tennisprofis in der Tschechoslowakei geboren, kam sie schon früh mit der Sportart in Kontakt – und feierte, nachdem ihre Mutter mit ihr 1988 in die Schweiz zog, rasch kantonale und nationale Erfolge. Es folgte ein spektakulärer Aufstieg in den globalen Tennis-Olymp, der erst 2017 nach mehreren Comebacks endete. Martina Hingis ist heute als Nachwuchscoach tätig und glückliche Mutter einer dreieinhalbjährigen Tochter.

Hingis gewann 38 Titel bei WTA-Turnieren im Einzel und 42 im Doppel. Zudem gewann sie fünf Grand-Slam-Titel im Einzel – dreimal die Australian Open und je einmal Wimbledon und die US Open – sowie dreizehn Grand-Slam-Titel im Doppel und sieben im Mixed. 1998 gelang es ihr, mit verschiedenen Partnerinnen sämtliche Grand-Slam-Turniere im selben Jahr zu gewinnen. Zwischen 1997 und 2001 stand sie 209 Wochen lang an der Spitze der Weltrangliste. Sie ist die jüngste Spielerin, die jemals das Einzelranking angeführt hat. Mit 16 Jahren und drei Monaten war sie auch die jüngste Siegerin im 20. Jahrhundert bei einem Grand-Slam-Turnier im Einzel. Nach ihrem Rücktritt im Alter von nur 22 Jahren entschied sie sich 2006 für ein Comeback, das sie noch einmal bis auf Platz 6 der Weltrangliste führte. Am 1. November 2007 verabschiedete sie sich ein zweites Mal vom Profisport. 2013 kehrte sie erneut auf die WTA Tour zurück, diesmal nur noch für die Doppelkonkurrenz. Hingis ist eine von sieben Spielerinnen, die die Weltrangliste sowohl im Einzel als auch im Doppel angeführt haben. Nur sie, Martina Navratilova und Arantxa Sánchez Vicario schafften dies sogar zeitgleich.

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