Matthew Bull: Kein Bock auf Bullshit

Vom Branchenmagazin «Campaign» zu einem der «Top Five» Chief Creative Officers der Welt ernannt, ist Matthew Bull ein Schwergewicht in der internationalen Marketing- und Kommunikationsbranche. Mit m&k spricht er über seine südafrikanische Kindheit, «Einläufe bei kreativer Verstopfung» und den Dorfplatz als Distributionskanal.

m&k: Matthew Bull, Sie sind in England geboren, in Südafrika aufgewachsen und leben heute mit Ihrer Familie in New York. Bewegung und Veränderung scheinen eine Konstante Ihres Lebens zu sein. Wie hat Sie das als Mensch geprägt?

Matthew Bull: Ja, Bewegung spielt tatsächlich eine grosse Rolle in meinem Leben. Der Umzug von England nach Südafrika war prägend. Aber auch innerhalb Südafrikas sind wir viel umgezogen, ich habe oft die Schule gewechselt, meine Mutter hatte verschiedene Partner, da war viel Instabilität. Ich spürte instinktiv, dass ich nicht in eine negative Geisteshaltung versinken durfte. Ich musste mich neuen Situationen stellen, mich hinwenden; wollte Teil der Community sein, in der ich lebte. Ich habe mich immer für die Menschen und die Kultur um mich herum interessiert. Die ständige Veränderung in meinem Leben war hart – aber auch grossartig.

 

Erzählen Sie doch noch ein bisschen mehr darüber.

Das Leben schenkte mir Widerstandsfähigkeit und Zuversicht. Bei jedem Umzug dachte ich: «Oh, mein Gott, werde ich je wieder glücklich sein? Werde ich je neue Freunde finden?» Die Antwort lautete jedes Mal «Ja!». Ich bin an meinen Herausforderungen gewachsen. Und die gewonnenen Erkenntnisse kann ich in meinem Beruf als Kreativer und Berater täglich einsetzen. Ich kenne mich mit Rückschlägen aus, ich weiss, wie es ist, aus der Komfortzone zu treten – es braucht Mut und Vertrauen. Und Risikobereitschaft, sich auf Neuland zu begeben.

 

Sie beschreiben sich selbst als jemanden, der Veränderungen liebt, aber Stabilität schätzt. Passt das zusammen?

Ja, in meinen Augen schon. Das eine sind Werte, die ich lebe. Prinzipien, die ich habe. In Beziehungen etwa. Habe ich trotzdem schon Fehler gemacht? Ja, klar, ich habe diese Werte auch schon verraten. Das war schlecht für mich, aber vor allem für meine Umwelt. Aber je älter ich werde, desto besser gelingt es mir, der Mensch zu sein, der ich sein möchte. Loyalität schätze ich sehr, privat und im Business.Ich habe seit Jahren die gleichen  Kundinnen und Kunden, die gleichen Mitarbeitenden. Wir schätzen Ehrlichkeit und Vertrauen.

Als CEO und Global CCO gewann Matthew Bull mehr als 70 Cannes Lions in Gold, Silber und Bronze.

Ihr Lebenslauf als Kreativer ist voll von Superlativen. Sie haben unzählige Awards gewonnen, gehören zu den fünf wichtigsten Marketers der Welt, was macht das mit Ihnen?

Ich denke, ich bekomme mit dem Alter einen Gottkomplex (lacht)

 

Wie bitte? (lacht)

Das ist ein Scherz. Oje, hoffentlich liest meine Frau das Interview nicht, sie bringt mich um (lacht). Was ich meine, ist: Früher haben mir diese Dinge viel bedeutet. Awards, Auszeichnungen; ich wollte gesehen und gefeiert werden. Heute trete ich gern in den Hintergrund. Ich bin stolz, wenn ich ein Umfeld schaffen kann, in dem kreative Höchstleistungen möglich sind. Awards sind die Wertschätzung dafür. Das Team gewinnt. In Cannes bin ich nicht mit auf die Bühne gegangen, als wir mit AB inBev zum Marketer of the Year gekürt wurden. Ich habe das Team hochgeschickt und war glücklich. Alle haben hart gearbeitet, um die Marke so nach vorne zu katapultieren. Ihr Stolz macht mich stolz.

 

Hat Ihr Verständnis von Mentoring auch etwas mit Ihrer eigenen Entwicklung zu tun?

Ja, da sprechen Sie etwas Wahres an. Ich war schlecht in der Schule – und es wurde nicht besser, je häufiger ich die Schule wechseln musste. Aber dann war da dieser Schulleiter, Warren Boden, der sah etwas in mir und förderte mich. Er gab mir die Chance, die ich brauchte, um aufzublühen. Wir haben heute noch engen Kontakt. Aber auch beruflich hatte ich kein grosses Vertrauen in mich, ich glaubte nicht daran, dass ich gut war. Ich wechselte zur Agentur Hunt Lascaris TBWA. Unfd fand meinen Mentor. John Hunt. Er sah mein verstecktes Potenzial, schuf ein Umfeld, in dem ich wachsen und gedeihen konnte. Und schauen Sie mich heute an, ich bin so gewachsen, dass ich mir einen Gottkomplex leisten kann (lacht laut). Nein, im Ernst: Ich schaue bei Menschen nie auf die Karriere-Vita, immer nur auf das vorhandene oder auch das noch versteckte Kreativpotenzial, das habe ich von John gelernt.

«In Cannes bin ich nicht mit auf die Bühne gegangen, als wir mit AB inBev zum Marketer of the Year gekürt wurden. Ich habe das Team hochgeschickt und war glücklich. Ihr Stolz macht mich stolz.»

Sie haben Ihre Karriere als Journalist gestartet. Was hat Sie bewogen, in die Werbung zu wechseln?

Als Junge liebte ich es, Werbung zu schauen, es faszinierte mich. Aber ich wollte lieber Journalist werden. Schreiben, recherchieren. Bis ich merkte, dass das für mein charakterliches Profil nicht aufregend genug war: Ich war als junger Mann ein «Bullshit-Artist». Ich konnte die verrücktesten Ideen, Geschichten und Visionen aus dem Nichts «heraufbeschwören» und alle um mich herum damit faszinieren. Stellen Sie sich vor, ich habe meinen Mitschülern im Internat weisgemacht, ich würde für die Jugendmannschaft von Manchester United spielen! (fasst sich ungläubig an den
Kopf)

 

Und aus dem «Bullshit-Artist» haben Sie einen «No-Bullshit-Artist» gemacht,

Das haben Sie gut gesagt, ja, das stimmt. Bei mir gibt es keinen Bullshit. Ich bin streng in meiner Arbeit. Mein Lieblingssatz ist: «Das kannst du besser.» Bis ich zufrieden bin mit dem Output dauert es, aber es lohnt sich. Hart in der Sache, aber verbindlich im Umgang, das ist meine Führungsmentalität. Menschen brauchen eine Umarmung genauso wie ehrliche Kritik. Dann können sie ihre Kreativität frei ausleben.

«Als junger Mann war ich ein «Bullshit-Artist». Ich konnte die verrücktesten Ideen, Geschichten und Visionen aus dem Nichts «heraufbeschwören» und alle um mich herum damit faszinieren.»

Wenn Sie Ihre Karriere in der Werbung mit Distanz betrachten: War früher alles besser?

Aber nein. Ich glaube, es ist immer alles gut so, wie es gerade ist. Als ich anfing, haben wir Inhalte für Fernsehen, Radio, Print und Outdoor erstellt. Es war wunderbar; alles war ganz einfach. Es wurde sozusagen eine Sprache gesprochen, die ich verstand. Und dann übernahm die Technologie, das Internet kam, dann die sozialen Medien. Zu Beginn hasste ich das, denn ich verstand die neuen Kommunikationskanäle nicht mehr. Plötzlich war Werbung keine «Einbahnstrasse» mehr, sondern es entwickelte sich ein Dialog mit dem Publikum. Aber wie ich eben bin, habe ich mich der Veränderung gewidmet und gelernt, sie zu lieben. Die kreativen Möglichkeiten sind schier unendlich. Auch jetzt, mit dem Entstehen des «Web3».

Im Rahmen der Cannes Lions 2022 wurden Matthew Bull und sein Team mit AB inBev zum Marketer of the Year ausgezeichnet.

Ist das «Web3» Ihrer Meinung nach die Zukunft?

Die Technologie ist noch nicht so weit, aber das ist nur noch eine Frage der Zeit. Noch sind etwa Tools wie AI-Brillen zu schwer. Das ist wie kurz vor der Entstehung des Smartphones: Erinnern
Sie sich an die ersten Mobiltelefone? Das waren Koffer, die man mit sich herumgeschleppt hat, und so ist es momentan wieder. Aber da entsteht eine neue Welt, und ich sage: «Keine Angst haben, raus aus der Komfortzone, rein in die Veränderung.» Es gibt dabei nur eine Herausforderung …

 

Und die wäre?

Die Kreativität darf nicht auf der Strecke bleiben. Sie ist und bleibt die Magie. Ich arbeite ja als Berater für die Kundenseite, deshalb weiss ich, dass der Profit für die Auftraggeber an erster Stelle steht. Aber bei der Kreativität gehe ich keine Kompromisse ein. Und auch nicht bei der sozialen Struktur innerhalb von Unternehmungen, die ich leite – oder für die ich tätig bin.

 

Was bedeutet das konkret?

Als ich meine erste, eigene Agentur in Südafrika aufbaute, da holte ich die kreativsten Köpfe. Frauen, «People of Color», Angehörige der LGBTQIA+-Community: Es war wie eine kleine «Insel der Seligen», auf der wir der Unterdrückung durch eine in vielen Bereichen noch rassistische, homophobe, patriarchale Welt entfliehen konnten. Wir schufen ein Umfeld, das divers war und der Kreativität freien Lauf ermöglichte. Wir hatten einen offenen Geist und ein offenes Herz. Das ist die Welt, in der ich mich wohlfühle, das ist die Bedingung, die ich stelle, wenn ich heute ein Unternehmen berate und das Team zusammenstelle.

Um ein Produkt erfolgreich zu machen, braucht es, so Bull, Logik und Magie.

Was ist Ihnen noch wichtig, damit Sie wirklich als Advisor in ein Projekt einsteigen?

Wenn das kreative Umfeld geschaffen ist, sich die Playerinnen und Player wohlfühlen, dann braucht es von Kundenseite her Risikobereitschaft. Mut, Fehler zu machen, Mut, anzuecken, sich «aus dem Fenster zu lehnen». Mut, das zu versuchen, was unmöglich erscheint. Genauso wichtig ist es aber auch, Fragen zu stellen; in einen Dialog zu kommen. Das kann man nur, wenn man nach dem «Warum» fragt.

 

Warum?

Wenn wir uns im Gespräch nach dem «Warum» fragen, geben wir dem Gegenüber die Möglichkeit, sich zu erklären. Und können somit auch uns erklären. Damit verkleinern wir den Graben zwischen uns und beginnen Brücken zu bauen. So können wir die Welt im besten Fall etwas besser machen.

 

Wie übertragen Sie Ihre Weltsicht auf die Werbung?

Heute können und müssen Marken mit ihren Kunden in den Dialog treten. Setzen Sie eine kluge, empathische Person an die Schnittstelle zwischen Brand und Community. Wenn der Shitstorm losgeht, weil wir die LGBTQIA+-Rechte verteidigen oder das Rezept für Hamburger neu denken, dann machen wir es, wie Michelle Obama gesagt hat: «When they go low, we go high.» Kommen Sie ins Gespräch, nehmen Sie Ihr Gegenüber ernst. Das macht den Unterschied. Setzen Sie an die Schnittstellen Menschen, die ihr Handwerk verstehen, die emotionale Intelligenz haben. Menschen, die sich für andere Menschen interessieren, die verstehen möchten, warum die Dinge sind, wie sie sind. Ehrliche Menschen, die andere Menschen nicht verurteilen, sie nicht in Schubladen stecken und sich über sie erheben. Augenhöhe, Respekt, Vertrauen, Ehrlichkeit: Wenn wir das den Menschen entgegenbringen, den Auftraggeberinnen und den Konsumenten, dann haben wir unsere Arbeit gemacht. Darin sehe ich meine Aufgabe. Die Awards, Auszeichnungen – die sind einfach der Blumenstrauss am Ende eines anstrengenden Tages, ein Dankeschön. Ein Symbol dafür, dass wir den richtigen Ton getroffen haben.

 

Gehen wir nochmals einen Schritt zurück. Wenn Sie engagiert werden, aus einer Brand eine «Love-Brand» zu machen – was sind die Fragen, die Sie sich mit dem Team stellen?

Wir beginnen damit, uns bewusst zu machen, was wir gemeinsam erreichen wollen. Was ist die Vision? Wenn ich weiss, wohin die Reise gehen soll, dann gehen wir von da aus zurück zum Anfang. Zum Kern. Was ist der Claim der Marke? Was hat sie erfolgreich gemacht? Wir müssen ehrlich sein: Ist dieser Kern heute noch relevant? Wenn wir diese Frage mit «Nein» beantworten, ist die Chance gross, dass man die Marke oder das Produkt sterben lassen muss. Das passiert selten, aber es kann passieren, wenn man ehrlich und aufrichtig analysiert.

 

Und wenn klar ist, dass es sich lohnt, den Weg zu gehen?

Dann nehmen wir diesen Kern und verbinden diesen mit den Konsumentinnen und Konsumenten. Modernisieren den Kern, machen ihn zeitgemäss und kommunizieren ihn auf allen Kanälen, die relevant sind.

«Magie ohne Logik ist bedeutungslos, Logik ohne Magie ist öde»

Wie stellen Sie das an?

Nehmen wir unseren diesjährigen Cannes-Gewinner AB InBev. Die Brauerei. Wie konnten wir die Marke Budweiser bei der Community zu einer «Love-Brand» machen? Heute sind materielle Dinge immer noch wichtig, aber viel wichtiger sind heute immaterielle Assets: Beziehungen, «Quality Time». Perfekt für ein Bier, oder? (lacht) Ich habe meinem Team also gesagt: Lasst uns herausfinden, wie wir diese Idee sowohl logisch als auch mit einer gewissen Prise an Magie den Verbrauchern kommunizieren.

Es braucht also Magie und Logik – im Zusammenspiel?

Oh ja! Ich habe das von einem wunderbaren südafrikanischen Werber gestohlen. «Magie ohne Logik ist bedeutungslos, Logik ohne Magie ist öde.» Es braucht beides. Die Logik ist die Strategie, der Kernzweck, das Versprechen. Das müssen wir festnageln, das muss sitzen, nicht für ein paar Jahre, nein, für ein Jahrhundert. Grosse Marken wie Apple, Nike, die haben diese Logik identifiziert. Dann streuen wir das magische Topping darauf. Die Magie ist es, der Menschen sich zuwenden, der sie treu bleiben, für die sie sich als begeisterte Markenbotschafter betätigen.

 

Ein CEO sagte über Sie: «Matthew Bull fungiert wie ein Einlauf bei kreativer Verstopfung.» Die freigesetzte Kreativität muss aber auch klug distribuiert werden. Wie erreicht man seine Zielgruppen am wirksamsten?

(lacht) Sie brauchen tatsächlich eine clevere Vertriebsstrategie. Man muss wissen: Marken und Menschen agieren in Parallelität. Marken sind nur so gut wie die Menschen, die darüber sprechen. Also achten wir darauf, dass wir die Geschichte, die wir breit streuen wollen, dem richtigen Menschen im Dorf erzählen. Dem, von dem wir wissen, dass er oder sie Einfluss auf die anderen hat. Stellen wir sicher, dass unsere Story überall weitererzählt wird. «Mund-zu-Mund-Propaganda» ist der sicherste Kanal, den es gibt. Der moderne Dorfplatz sind die sozialen Medien, das Metaverse; der Dorfplatz ist heute ja immer da, wo sich die Zielgruppe gerade aufhält.

«Eine Marke sollte radikal ehrlich mit sich sein und nur die Themen abdecken, die mit ihrem Kern identifizierbar sind.»

Die Welt scheint heute in vielerlei Hinsicht aus den Fugen geraten. Können Marken ein Anker für die Gesellschaft sein?

Absolut. Menschen sind loyal, wenn sie Vertrauen haben. Dies gilt für Beziehungen zwischen Menschen untereinander, aber auch für Beziehungen zwischen Menschen und Marken. Brands sollten anerkennen, dass sie eine Verantwortung haben. Sie können den Menschen ein gutes Gefühl geben, ihr Bedürfnis befriedigen.

 

Gibt es etwas, das Marken auf keinen Fall machen sollten?

Marken sollten sich nicht überschätzen. Eine Marke sollte radikal ehrlich mit sich sein und nur die Themen abdecken, die mit ihrem Kern identifizierbar sind. Johnson und Johnson kann über Mutterschaft sprechen, das ist deren Kernthema; Budweiser kann über Community sprechen, aber … bitte nicht über die Raumfahrt! (lacht) Das ist nichts, was wir mit Bier verbinden würden. Am Ende des Tages wollen wir den Konsumenten das Leben etwas leichter machen: Ein Bier soll erfrischen, ein Kraft-Heinz-Produkt soll nähren, ein Auto soll sie sicher von A nach B bringen. That’s it. Nicht mehr und nicht weniger.


Matthew Bull gründete Lowe Bull South Africa und baute es zu einer der 50 grössten Kreativagenturen der Welt auf. Nach 17 Jahren verkaufte er das Unternehmen, fungierte als CEO von Lowe London, bevor er Global CCO von Lowe wurde. Bull gründete The Bull-White House in New York, fungierte als CCO von Mcgarrybowen New York. Ende 2017 gründete er SoloUnion.

Matthew Bull ist Global Chief Creative Advisor AB InBev; CCA Kraft Heinz und Live Kindly. Er sitzt im Vorstand von Skullcandy und ist Mitglied der Marketing Academy of the USA, die junge Werbe- und Marketingfachleute berät.

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