«Die Medienbranche sollte Tsüri als neue Form von Journalismus viel mehr Beachtung schenken»

Das Zürcher Stadtmagazin Tsüri ist auf gutem Weg, bald schwarze Zahlen zu schreiben. Wie die Finanzierung funktioniert, die Redaktion organisiert ist und wie die Zukunft des einstigen Blog-Projektes aussehen könnte, verrät Geschäftsführer Roland Wagner im Gespräch mit der Werbewoche.

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Das Zürcher Stadtmagazin Tsüri wurde im Januar 2015 von einer Gruppe junger Journalisten und Journalistinnen gegründet. Das selbsterklärte Ziel: kritischen, engagierten und unabhängigen Journalismus für die Zürcher Bewohner bieten. Roland Wagner (53) ist seit Juni 2018 Geschäftsführer von Tsüri. Er bringt eine Aussensicht in das Medien-Start-up, war er doch bisher als IBM-Manager, Spitzenschwimmer und Mitglied der Geschäftsleitung des Schweizerischen Gehörlosenbunds tätig.

Werbewoche: Tsüri hat kürzlich das Team ausgebaut – Sie selbst sind zum Beispiel neu als Geschäftsführer mit an Bord. Wie schafft Tsüri das, wovon andere Medienhäuser, welche Redaktionen abbauen oder gar einstellen, aktuell oft nur träumen?

Roland Wagner: Der grosse Unterschied ist, dass Tsüri eine Grassroot-Bewegung ist. Vor bald vier Jahren haben vier Kollegen Tsüri als Blog gegründet mit einem kleinen Startkapital von ein paar tausend Franken. Tsüri wächst von unten und langsam. Vieles ist Learning by Doing. Auch wenn Mitarbeitende abspringen, bleiben sie Tsüri doch verbunden. Dieser Enthusiasmus, der vom Projekt ausgeht, animiert Mitglieder, uns zu unterstützen – und neuerdings auch Investoren.

Tsüri wächst von unten und langsam. Vieles ist Learning by Doing.

Was will Tsüri erreichen?

Unsere Vision ist, dass Tsüri mit der Stadt verschmilzt. Wir richten uns vom Schreibstil und den Inhalten her an 20- bis 40-Jährige. Uns ist wichtig, dass wir nahe an den Lesern sind. Wer will, kann mit uns interagieren. Man kann Tsüri aber auch passiv und kostenlos lesen.

Wie teilen Sie sich Ihre Arbeit in der neuen Besetzung auf?

Wichtig ist zu verstehen, dass wir in zwei Gefässen separiert arbeiten: Einerseits gibt es die Aktiengesellschaft. Hier sind der Mitgründer Simon Jacoby als strategischer Leiter, ich als Geschäftsführer, die Community-Verantwortliche und die Co-Chefredaktion fest angestellt. Wir kümmern uns um die Weiterentwicklung der Website, der Social-Media-Kanäle und der Marke sowie um die Vermarktung des Contents. Ausserdem ist die Positionierung von Tsüri und die Member-Strategie unsere Aufgabe. Auf der anderen Seite existiert ein Verein, in dem 20 bis 30 freischaffende Journalistinnen und Journalisten angesiedelt sind. Der Verein kümmert sich neu auch nachhaltig um Fundraising. Die Chefredaktion ist der Link zwischen Verein und AG.

Wieso sind die Freelancer in einem Verein organisiert?

Einerseits ist das historisch entstanden: Der Verein war zuerst da. Als man jedoch merkte, dass man sich in einem basisdemokratischen Verein nicht schnell weiterentwickeln kann, wurde die AG gegründet. Den Verein hat man bestehen lassen, um eine Unabhängigkeit zwischen Verlagsmanagement und Journalisten zu schaffen. Der Vorteil ist auch, dass die Freelancer mit mehr Lust arbeiten als Angestellte, weil sie mehr Eigenständigkeit haben. Ziel ist langfristig, dass auch die Chefredaktion dem Verein angehören wird.

Entlöhnen Sie die Freelancer nach branchenüblichen Sätzen?

Wir entlöhnen sicher am unteren Rand. Wir haben den Bonus, dass viele Journalisten sehr gerne für uns schreiben, weil Tsüri ein besonderes Medium ist und viele Freiheiten bietet. Allerdings haben wir trotzdem die Schwierigkeit, dass viele nach einer Zeit weiterziehen. Wir hoffen, dass wir das Team besser zusammenhalten können, sobald wir zahlungskräftiger werden. Was besonders ist: Die AG bezahlt dem Verein monatlich einen Betrag, der nach einem Bewertungssystem zwischen den Autoren aufgeschlüsselt wird. Je zu einem Drittel fliessen die Bewertungen der Member von Tsüri ein, die Bewertung der Chefredaktion und die Bewertung eines Vereinsgremiums. So fällt die ausgezahlte Summe je nach Artikel unterschiedlich hoch aus. Die Unterschiede sind allerdings nicht riesig, da der Gesamtbetrag nicht gross ist.

Wir entlöhnen sicher am unteren Rand.

Arbeiten Sie kostendeckend?

Das ist Ziel des Businessplans, der mit der Kapitalerhöhung im Frühling 2018 erstellt wurde und den wir aktuell überprüfen. Im ersten halben Jahr 2018 haben wir einen Verlust eingerechnet. Unser Ziel ist, mit der neuen Besetzung in anderthalb Jahren schwarze Zahlen zu schreiben. Ich habe aber das Gefühl, dass wir das schon Anfang 2019 schaffen werden. Wobei man anmerken muss, dass wir uns unterdurchschnittliche Löhne auszahlen und auf eigenen Laptops arbeiten. Wir leben den Start-up-Groove.

Was ist der ausschlaggebende Punkt, dass der Businessplan so gut aufzugehen scheint?

Das Projekt hätte von Anfang an finanziell gut funktioniert, hatte allerdings nicht genügend Ressourcen. Zwei Leute können einfach nicht gleichzeitig Chefredaktor sein, Werbung verkaufen, die Plattform weiterentwickeln, Investoren suchen und Member bearbeiten. Mittlerweile aber hat jeder von uns eine Position mit klarem Aufgabenbereich, sodass wir professionell arbeiten können. Wir erfinden das Rad nicht neu, sondern setzen die Strategie vom Anfang nun professionell um.

Ich habe das Gefühl, dass wir schon Anfang 2019 schwarze Zahlen schreiben werden.

Wie sieht das Finanzierungsmodell von Tsüri aus?

Das ist breit abgestützt: Wir finanzieren uns zum einen über Member-Beiträge, die je nach Vorteilen 60, 120 oder 180 Franken im Jahr kosten. Ausserdem erhalten wir Einnahmen durch Promoartikel von Firmen. Sie kosten 1500 Franken und sind klar gekennzeichnet. Zusätzlich erhalten wir Stiftungsbeiträge zur Förderung des Journalismus. Zu guter Letzt schalten wir Bannerwerbung.

Man hört ja oft, mit Bannerwerbung lasse sich nicht genügend verdienen …

Wir schalten User-nahe Werbung von Musiklabels, Kulturveranstaltungen, Verlagen – das passt wirklich zum Zielpublikum und bringt sowohl Werbetreibenden als auch Lesern etwas.

Wie schwierig ist es, neue Mitglieder zu gewinnen?

Viele Medien haben ja das Problem, dass Leser nicht bereit sind, für Onlinejournalismus zu zahlen. Wir machen die Erfahrung, dass viele sehr wohl bereit sind, jungen, lokalen und innovativen Journalismus durch ihre Beiträge zu unterstützen. Bei uns kommen Member ausserdem gratis an Tsüri-Partys und sie erhalten einen kuratierten Veranstaltungs-Newsletter. Aktuell haben wir 850 Member und die Zahl steigt. Allerdings konnten wir bisher nur einen kleinen Teil unserer Community als zahlende Mitglieder gewinnen – wir zählen 40 000 monatliche Unique Visitors, 25 000 Facebook-Likes und 12 000 Instagram-Followers.

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Spannend ist ja Tsüris neustes Projekt Civic Media, mit dem Sie den Austausch zwischen Redaktion und Community stärken wollen. Wie lief die erste Runde mit dem Thema «Smart Tsüri» an?

Civic Media bietet uns finanziell ein zusätzliches Standbein und lief wahnsinnig gut an. Wir sind mit den Sponsoring-Einnahmen bereits für die zweite Runde über Budget.

Und wie kam der Themenmonat «Smart Tsüri» bei den Nutzern an?

Wir haben rund 25 Artikel zum Thema Smart City publiziert, die nur mässig gelesen wurden. Das Thema ist eben viel fachlicher als «Die zehn besten Pizzerien Zürichs». Aber die Events, die einen persönlichen Austausch bieten, haben extrem gut funktioniert. Am besten angekommen sind Workshops mit Fachexperten. Dort konnte man sich vertieft beispielsweise mit dem Thema Stadtentwicklung auseinandersetzen.

Wie geht es mit Civic Media nun weiter?

Im November planen wir einen Themenmonat über Sucht. Wir organisieren Mitmachevents, die sehr zugänglich sind. Der Plan ist, dass wir einmal pro Quartal so ein Thema aufsetzen. Das Projekt soll mehr als nur ein medialer Event sein. Wir wollen gesellschaftliche Diskussionen anregen und nachhaltige Produkte mitgestalten. Somit wollen wir lokalen Journalismus neu erfinden.

Was denken Sie – mit dem Erfolg im Rücken – könnte für den Journalismus ein Weg sein, auch in Zukunft zu bestehen?

Aktuell finden enorme technologische Veränderungen statt, die die Gesellschaft und den Journalismus beeinflussen. Medienhäuser haben zum Teil falsch darauf reagiert. Im Moment sieht es so aus, als würde es bergab gehen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass die Gesellschaft auf den Journalismus verzichten wird. Ich glaube an die Lernfähigkeit des Systems. Aber wie der Weg aussehen wird, lässt sich noch nicht sagen. Mit Tsüri haben wir nun eine Art Experimentierfeld: Wir können an Stellschrauben drehen, um eine Lösung im Kleinen zu finden. Die Medienbranche sollte Tsüri als neue Form von Journalismus daher viel mehr Beachtung schenken.

Interview: Ann-Kathrin Kübler

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