Unbequem, ungeduldig – der neue Leser

Der digitale Kanal bietet für Zeitungsmacher Lichtblicke. Im Printgeschäft indes wird es nicht nur wegen wegbrechender Inserateeinnahmen schwieriger: Die Drohkeule «Abo-Kündigung!» erfreut sich zunehmender Beliebtheit. Die «Medienmeinung»-Kolumne von Jérôme Martinu, Chefredaktor der Luzerner Zeitung.

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Es gibt ihn tatsächlich, den Anlass zur Hoffnung. Trotz stetig sinkender Auflagezahlen bei den bezahlten Tageszeitungen bleiben die Leserzahlen im klassischen Printprodukt, zumindest bei einer Regionalzeitung wie der unsrigen, stabil. Und – der Anlass zur Hoffnung – es gibt sogar markanten Leserzuwachs: auf dem digitalen Kanal. In diesen Tagen hat die Luzerner Zeitung mit ihren Regionalausgaben nicht nur ihr Online-Markenportal in einem Relaunch neu aufgesetzt, sondern damit nach einer rund zweieinhalbjährigen Phase des Free Content ein neues, dynamisches Registrier- und Bezahlmodell für die digital verfügbaren Zeitungsinhalte lanciert. Chancen auf dem Lesermarkt? Sicher intakt, wenn auch mit Ungewissheit verbunden.

Anlass zur Hoffnung gibt auch eine jüngst publizierte PwC-Studie. Die Wirtschaftsprüfer stellen in ihrem «German Entertainment & Media Outlook»-Report einerseits wenig überraschend fest, dass «kräftiges Wachstum in der deutschen Medien- und Unterhaltungsbranche fast nur noch digital möglich ist». Andererseits geht damit eine Wachstumsprognose einher, wonach bis 2021 die Onlinewerbung jährlich im Durchschnitt um 5,6 Prozent wächst. Im Zuge dieses Wachstums, und das tönt für die Verlage tatsächlich nach Lichtblick, sollen die Erträge aus dem Geschäft mit bezahlten Inhalten zweistellig wachsen – pro Jahr! Knapp 11 Prozent Wachstum beim Paid Content errechnen die PwC-Experten. In Deutschland sollen 2017 bereits 15 Prozent der Bürger, das sind 9 bis 10 Millionen, Geld für digitale Inhalte und Services ausgegeben. Das Erfreulichste daran: Kostenpflichtige Nachrichtenangebote verzeichneten dabei die grösste Zuwachsrate nebst Musik, Film, Spielen, E-Book.

Wer versucht ist, aus solchen Zahlen und Prognosen mehr als den eingangs propagierten Anlass zur Hoffnung abzuleiten, ja gar einen möglichen Turnaround im Zeitungsgeschäft zu weissagen, der sei gewarnt: Digitales und klassisches Publikum ticken nach wie vor sehr unterschiedlich.

Die Schwierigkeiten im Geschäft mit der abonnierten Zeitung sind nicht kleiner, sondern um eine Dimension komplexer geworden. Denn es ist eine Entwicklung feststellbar, die Redaktionen wie Lesermarktabteilungen stark fordern. Die Leserinnen und Leser sind selbstbewusster geworden. Sie fragen nach, kommentieren, fordern ein, beschweren sich. Dies in einem Ausmass – E-Mail und Soziale Medien sei Dank –, das in Kadenz und Heftigkeit stetig gestiegen ist in den letzten Jahren. Diese Entwicklung hat zweifellos positive Seiten. Der direkte, regelmässige Dialog mit den Lesern ist wertvoll. Er generiert mehr Inputs für Geschichten. Und der Druck auf uns Journalisten, auch ungefiltert Frau Meier oder Herrn Müller im Gespräch Sachverhalte und/oder journalistische Wertungen zu erklären, schärft das Bewusstsein für die notwendige Präzision und Verständlichkeit der Berichterstattung.

Das gesteigerte Selbstbewusstsein der zahlenden Leserschaft hat aber auch mühsame Seiten: die Drohkeule «Abo-Kündigung!». Kaum ein Tag vergeht, an denen Zeitungsverlagen und -redaktionen nicht mit dem Zudrehen des Geldhahns gedroht wird. Hier folgen ein paar Müsterchen aus Zuschriften.

«Vor einigen Tagen habe ich mich über die Unart mit den gewaltigen Bildern im Blatt geärgert und Ihnen das auch mitgeteilt. (…) Für so etwas bezahle ich nicht weiterhin über 400 Franken und werde meine Konsequenzen ziehen. Was Ihnen mutmasslich so lang wie breit ist.» Bei einem anderen Abonnenten hat der Zustellungsunterbruch während der Ferien nicht geklappt: «Wenn ich so arbeiten würde wie Sie und Ihre Angestellten, hätte ich schon längst keine Arbeit mehr und könnte mein Unternehmen dichtmachen. (…) Sollte sich Ihr Service nicht verbessern, so werde ich Ihre Zeitung sofort kündigen.» Oder es geht darum, wie bei diesem Leser, dass eine auskunftgebende Person beziehungsweise deren Aussagen nicht genehm sind: «Wie kann man einem solchen Polterer, der eine Breitseite gegen einen demokratisch gewählten (!) Präsidenten (Donald Trump; Anm. d. Red.) auffährt, so viel Platz gewähren? (…) Wenn sich die Berichterstattung künftig nicht wieder Richtung Neutralität und Ausgewogenheit bewegt, werde ich das Abo kündigen.» Zu einem Gastbeitrag über die No-Billag-Abstimmung, in dem der Autor den Initianten ein «Werdet erwachsen!» zugerufen hat, schrieb ein Leser: «Ihrer Zeitung muss es sehr gut gehen, dass sie derart grobe Leserbeschimpfungen zu publizieren wagt. (…) Aber das lasse ich mir nicht bieten, der Bogen wurde überspannt. Sobald die Aborechnung eintrifft, werde ich diese zurückschicken mit dem Vermerk: ‹Abo wird nicht erneuert›.»

Wie soll man als Redaktor und Journalist damit umgehen? Wisch und weg? Oder auf solche Forderungen mit Blick auf die grösser werdenden Löcher in der Kasse möglichst 1:1 eingehen? Weder noch. Wir Zeitungsmacher sollten uns zwar um jeden einzelnen Kunden bemühen. Das heisst zuerst: Reklamationen wenn immer möglich persönlich beantworten. Dann erklären, erklären, erklären – sowie auch die Grösse zeigen, mal einen Fehler zuzugeben und das nötige Mass an Selbstkritik an den Tag legen. Im Gegenzug dürfen wir – insbesondere mit Blick auf die Pressefreiheit – nicht vor der Drohkeule «Abo-Kündigung!» einknicken. Denn das würde bloss der so oder so schon steigenden, ungesunden Polarisierung der Meinungen weiteren Auftrieb verleihen. Wir Journalisten sollten uns vom Besserwisser- und Wutbürgertum sowie vom Trend zur kategorischen Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen nicht aufwiegeln lassen. Auch wenn das manchmal wirklich schwerfällt.

Jérôme Martinu leitet seit Mai 2016 die Luzerner Zeitung als Chefredaktor. Der 43-jährige Historiker war zuvor seit 2012 stv. Chefredaktor und Leiter der regionalen Ressorts. Er arbeitet seit über 16 Jahren im LZ-Medienhaus in Luzern. Die Luzerner Zeitung und ihre Regionalausgaben in Zug, Nidwalden, Obwalden und Uri werden aktuell von rund 292 000 Menschen gelesen. Die Zeitung gehört zur NZZ Mediengruppe und arbeitet im überregionalen Teil institutionalisiert mit ihrer ebenfalls zur NZZ gehörenden Partnerzeitung St. Galler Tagblatt zusammen.

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