«Der Star darf nicht grösser als sein Heimatsender werden»

Damit Radiosender ihre Hörer nicht an Streaming-Dienste verlieren, sollten sie sich auf ihre Stärken besinnen, sagt die Berliner Radio-Eins-Chefin Anja Caspary im Interview. Und zum Beispiel Moderatoren zu Marken machen.

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Werbewoche: Wie wichtig sind Persönlichkeiten im Radio wirklich? Es gibt ja durchaus Menschen, die einfach Musik hören und sich informieren wollen, die es vielleicht als störend empfinden, wenn sich Moderatoren zu sehr selbst vermarkten.

Anja Caspary: Der Erfolg von Streaming-Diensten wie Spotify zeigt, dass viele Leute damit zufrieden sind, wenn ihnen eine unmoderierte Liste von Musik vorgegeben wird. Nach dem Motto: Wenn du das magst, magst du das auch. Niemand erzählt ihnen etwas über die Künstler, aber das scheint viele nicht zu stören. Ich glaube trotzdem, dass das auf Dauer unbefriedigend ist, weil Menschen gerne Menschen folgen und hören wollen, was andere sagen. Vor allem in meinem Radiosender ist es wichtig, dass die Moderatoren glaubhaft sind und wissen, wovon sie reden. Wir haben vor allem erwachsene Hörer und kaum 15-Jährige, bei denen es genügt zu sagen: «Das ist geil.» Wenn eine Persönlichkeit sagt, warum Musik gut ist, oder warum sie nicht gut oder nachgemacht ist und deswegen vielleicht uninspiriert, weil es das schon gab – dann ist das ein Mehrwert, den Streaming-Dienste nicht haben.

Ist die Strategie, Moderatoren als Marken zu positionieren, auch ein Versuch, sich von Musik-Streaming-Diensten wie Spotify und Apple Music abzuheben?

Ein Versuch, den es schon immer gab. Radio wurde von Anfang an, seit hundert Jahren, mit Menschen gemacht. Ich glaube schon, dass wir uns im Zuge der Konkurrenz durch Streaming-Dienste – denn ja, die wollen uns natürlich Hörer abgreifen – mehr auf unsere Stärken besinnen müssen. Die drei grossen Vorteile von Radio sind: die persönliche Ansprache, die Aktualität und die Regionialität. Das können die Streaming-Dienste alles nicht von sich sagen.

Die drei grossen Vorteile von Radio sind: die persönliche Ansprache, die Aktualität und die Regionialität.

Was hat es für die Hörerzahlen von Radioeins bedeutet, Jan Böhmermann und Olli Schulz an Spotify zu verlieren?

Die Sendung funktionierte exorbitant gut als Podcast und hat die Fans von Böhmermann und Schulz auf unsere Mediathek gezogen. Wir haben aber jetzt an der Stelle eine Sendung mit Serdar Somuncu und der hat dieselben guten Quoten.

Auch andere Radiosender verlieren beliebte Persönlichkeiten, aus anderen Motiven vielleicht. Zum Beispiel die Morgenmoderatoren von Energy Zürich und SRF 3 haben sich entschieden zu gehen: Patrick Hässig wird Krankenpfleger und Mona Vetsch konzentriert sich vorübergehend aufs Fernsehen. Was sind mögliche Wege, um weiterzumachen, ohne seine Hörer zu verlieren?

Einerseits ist es natürlich toll, wenn man als Radiosender Persönlichkeiten hat, von der viele Fan sind. Wenn sie aber grösser als der Sender selbst werden und dann woanders hingehen und die Hörer mitnehmen, ist es auch nicht gut. Der Star darf nicht grösser werden als sein Heimatsender. Die Gefahr besteht bei uns nicht, weil wir nicht nur morgens eine Primetime haben, sondern den ganzen Tag mit seriösen Wortbeiträgen informieren. Unsere Moderatoren sind nicht immer wichtige Personalities, sondern müssen in erster Linie gut Interviews führen und sich mit der Musik auskennen. Natürlich haben auch wir Moderatoren, die bekannt sind und beliebter als andere. Aber die polarisieren auch – es gibt immer Leute, die sie nicht mögen. Sollten wir einen witzigen Moderator verlieren, ist das für uns kein Problem. Man muss einfach immer schauen, dass man auch Nachwuchs ranzieht, und sich nicht nur auf eine Personality kapriziert.

Man braucht authentische Menschen, die vor dem Mikro eins zu eins wie im richtigen Leben auftreten.

Was wäre ein Weg, um unbekannte Nachzügler zu einer Marke zu machen – oder zu einem Teil der Sendermarke sozusagen?

Dafür gibt es keinen Patentweg. Die Leute müssen schon aus sich selber heraus etwas Besonderes mitbringen. Da hilft es, wenn sie nicht den typischen Werdegang haben: Schule, Uni, Radio. Quereinsteiger, Menschen mit Lebenserfahrung, die sich in Hörer hineinversetzen können, die mal was anderes gesehen haben, die unkonventionell sind. Für uns ist es beispielsweise schwer, Moderatoren von ehemaligen Privatsendern zu engagieren wegen ihrer Art zu sprechen. Wenn man aber Menschen mit Potenzial trifft, als Praktikanten oder im Nachtleben – dann muss man sie testen. Manche haben keine Scheu vorm Mikrofon, andere aber verfallen in eine Rolle und das ist nicht gut. Man braucht authentische Menschen, die vor dem Mikro eins zu eins wie im richtigen Leben auftreten. Nur dann wirken sie glaubhaft.

Was veranlasst Hörer, sich an Moderatoren «zu binden»? Sie nicht nur einfach gut zu finden, sondern sich langristig zu freuen, wenn genau sie moderieren?

Es gibt drei Aspekte: Die Hörer müssen fühlen, dass der Moderator sich für sie interessiert. Er sollte Interviews stellvertretend für sie führen, im Dienste der Hörer – nicht oberflächlich, sondern so, dass er wirklich etwas wissen will. Ausserdem sollte der Moderator nicht arrogant sein, sich nicht aufspielen, sondern bescheiden bleiben, besonders in der Interaktion mit dem Publikum. Gut ist auch, wenn er etwas aus seinem Privatleben preisgibt. Das muss nicht viel sein, aber wenn jemand auch mal über die eigenen Gefühle spricht, kann man sich leichter mit ihm identifizieren.

Wann wäre der Zeitpunkt erreicht, dass – wie Sie vorhin gesagt haben – eine Persönlichkeit eine zu starke Marke geworden ist, sprich dass Hörer ihr treuer sind als dem Sender selbst?

Wenn jemand so eine starke Marke ist, versucht jeder Programmchef oder jede Programmchefin, die Person zu halten. Böhmermann und Schulz haben uns wegen des schnöden Mammons für Spotify verlassen. So viel konnten wir einfach nicht bieten. Deshalb muss man zusehen, dass man rechtzeitig andere engagiert, die so einen Weggang auffangen können. Radio besteht ja nicht nur aus einer Person. Es ist ja auch so, dass Menschen neugierig auf Neues sind. Manchmal ist es im Nachhinein auch richtig, dass die Menschen gegangen sind. Dann war die Zeit reif für Neues.

Wenn wir in die Zukunft des Radio schauen: Wenn die Streaming-Dienste selbst anfangen zu produzieren, haben Sie noch weitere Ideen, wie das Radio den Wettbewerb mit ihnen aufnehmen könnte?

Noch verhält es sich andersrum: Die Streaming-Dienste versuchen, den Wettbewerb mit dem Radio aufzunehmen. Ich finde, dass wir noch relativ entspannt sein können. Auch wir kuratieren ja aus einem Überangebot aus Informationen Programm, so wie sie ihre Listen erstellen. Wir haben aber den Vorteil, dass Auskenner sagen können, warum das eine Lied gut und das andere nicht gut ist. Dass wir eine Geschichte zu den Liedern erzählen können, die man sich zwar auch zusammengooglen könnte, aber dafür hat ja keiner Zeit. Menschen sind froh, wenn sie aus dem Überangebot eine Auswahl bekommen. Und man sollte mit mehr Spezialisten arbeiten, mit Leuten, die wirklich etwas von Musik verstehen und nicht nur einen Titel an- und absagen können. Toll ist natürlich auch, dass wir die Möglichkeit haben, die Regionalität zu stärken, ob in Berlin oder Zürich. Sagen, was hier los ist: «Um die Ecke spielt eine tolle Band, die kommt aus deinem Kreis und du kennst sie noch nicht?» Das können die Streaming-Dienste nicht. «Nachher geben LCD Soundsystem ein Geheimkonzert, das weiss die Welt erst seit heute und wir haben die Freikarten dafür.» Das sind Stärken, die wir schon immer hatten und auf die man sich auch in Zukunft konzentrieren sollte.

Eine Baustelle ist ja Radiowerbung, die meist mehr schlecht als recht ist, zumindest ist das unser Eindruck in der Werbewoche-Redaktion. Haben Sie Ideen, wo die Reise hingehen könnte, damit die Werbung besser wird und Hörer weniger schnell umschalten?

Wir erhalten tatsächlich sehr viele Mails von Hörern, die sich über die Werbung aufregen. Wir bei Radioeins finden sie auch nervig. Rein rechtlich müssen wir sie spielen und können uns auch nicht weigern – es sei denn, sie haben menschenverachtende oder frauenfeindlich Inhalte. Die Rundfunkgesetze müssten geändert werden, damit ein Sender, der Werbung nicht spielen will, das auch nicht machen muss. Es gibt in Deutschland überregionale Sender, wie Deutschlandfunk Kultur, die keine Werbung spielen müssen. Private Sender können sich ohne Werbung natürlich nicht finanzieren, wobei ich oft finde, dass die Werbung bei privaten Dudelfunk-Wellen gar nicht so negativ auffällt. Aber bei unserem öffentlich-rechtlichen Indie-Rock-Sender eben schon.

Wir erhalten tatsächlich sehr viele Mails von Hörern, die sich über die Werbung aufregen.

Im Hinblick auf die Werber: Hätten Sie einen Vorschlag, wie sie Radiowerbung verbessern könnten, damit sie weniger nervig wird?

Radio ist natürlich ein tolles Hörspielmedium. Man hätte die Möglichkeit, intelligente kleine Stories zu erzählen, wobei die teure Zeit dafür wahrscheinlich nicht reicht. Es würde aber schon helfen, wenn einem die Leute nicht so ins Ohr schreien würden. Auch dass Frauen oftmals so dumm dargestellt werden: «Ich habe das Auto gekauft, weil es blau war» und dann künstlich lachen… Dieses Künstliche, Schreierische zugunsten von qualitativ hochwertigen Mini-Hörspielen auszutauschen, wäre besser.

Content Marketing fürs Ohr also?

Oder einfach kurz und knapp sagen, was sie sagen wollen, und dabei nicht schreiben. Das würde schon helfen.

Interview: Ann-Kathrin Schäfer

Anja Caspary spricht am Swiss Radio Day 2017 am 24. August 2017 in Zürich über das Thema «Persönlichkeiten als Marken». Die 52-Jährige hat den öffentlich-rechtlichen Berliner Radiosender Radio Eins, der seit eh und je mit dem Slogan «Nur für Erwachsene» wirbt, mit aufgebaut. Lange Zeit war Caspary als Moderatorin tätig, seit 2015 ist sie Musikchefin beim Sender.

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