Die lachenden Dritten der Gratis-News
Kein Kleid und keinen Wein bekommt man online gratis – News schon. Die Printmedien tragen, in dem sie News online gratis zur Verfügung stellen, eine Mitverantwortung an ihrer schwierigen Situation. Von Fabio Pontiggia, Chefredaktor des Corriere del Ticino.

Wer sich ernsthaft und eingehend über die Geschehnisse im eigenen Land informieren möchte, kann dies 365 Tage im Jahr rund um die Uhr bequem und erst noch gratis tun: Es kostet sie oder ihn keinen Rappen.
Das ist heute, in der Ära des Internets, die journalistische Realität. Wir stehen an einem wichtigen Scheideweg: Entweder lassen die Printmedien die Zeit der kostenlosen News hinter sich, oder sie schaufeln sich ihr eigenes Grab. Alle zugänglichen und verfügbaren Statistiken sagen uns, dass das Wirtschaftsmodell von Gratis-Nachrichten als Gegenleistung für Klicks durch die Leserschaft, die zu mehr Werbung führen, zum Scheitern verurteilt ist.
Die Zeitschrift Schweizer Journalist (Ausgabe Juni/Juli 2017) hat die Entwicklung der Werbeeinnahmen in der Schweiz von 2000 bis 2016 untersucht, in der Zeit also, in der das Internet grossgeworden ist. Gesamthaft sind die Einnahmen bei den Printmedien von 3 Milliarden auf weniger als 1,3 Milliarden Franken eingebrochen. Bei den herkömmlichen Zeitungen sind die Einnahmen von 2,2 Milliarden auf unter eine Milliarde gesunken. Dafür sind sie bei den Online-Medien von 30 Millionen Franken im Jahr 2000 auf 1,1 Milliarden Franken 2016 gestiegen. Doch aufgepasst, schreibt die Zeitung: «In derselben Zeitspanne ging dafür die Online-Werbung wie eine Rakete hoch. Es ist doppeltes Pech für die Verlagshäuser. Das grosse Geld fliesst hier nicht in ihre Taschen, sondern in jene von Google und Facebook.»
Es sind also die grossen News-Plattformen, auf denen die Verleger und Journalisten täglich gratis und franko Informationen posten, die von der durch Leser-Klicks generierten Werbung profitieren. Das ist eine doppelte Ohrfeige. Die nach oben zeigende Kurve der Online-Werbung kreuzt bald die sinkende Kurve der Werbung in den Printmedien, doch die lachenden Dritten sind Google und die sozialen Netzwerke mit ihrer Politik der offenen Arme.
Wir müssen also mitansehen, wie Zeitungsverleger und Journalisten Google, Facebook und Twitter in die Hände spielen. Je früher wir diese Blutspende unterbinden, desto besser für die Printmedien. Je länger wir zuwarten, desto schlimmer wird es. Wir haben es an dieser Stelle bereits geschrieben: Seit der Digitalisierung der Wirtschaft (die ein enormer Fortschritt ist, keine Frage!) ist noch keine Branche auf die Idee gekommen, ihre Produkte zu verschenken. Mit einer Ausnahme: die Printmedien. Vor dem Internet konnten sich die Zeitungen ihr Erzeugnis, die Nachricht, vergüten lassen. Mit dem Einzug des Internets haben sie merkwürdigerweise begonnen, es zu verschenken. In 20 Jahren werden sich Wissenschaftler mit dieser unglaublichen Entwicklung auseinandersetzen und sie analysieren. Wir können nur hoffen, dass diese Studien noch in lebendigen und gesunden Zeitungen veröffentlicht werden können.
Keiner findet im Internet Kleider, Bücher, CDs, Wein, Reisen, Autos oder Konzerte für nichts. Alle finden jedoch News für nichts. Das ist unglaublich, aber wahr. Viele Zeitungen werden jetzt sagen: Nein, wir verschenken nur die ersten 10, 15 oder 20 Nachrichten, ab dann müssen die Lesenden zahlen. Stimmt. Aber dabei wird ganz offenkundig der Systemeffekt vergessen: Ich nehme gratis 10 gute, ernsthafte, fundierte Artikel aus der Washington Post, dann weitere 15 kostenlose Artikel aus der New York Times, schliesslich nehme ich noch 20 etwas leichtere aus USA Today, und schon habe ich eine komplette Rundum-Information, ohne auch nur einen einzigen müden Dollar auszugeben. Das wirkliche Dilemma, vor dem die Verleger und Journalisten heute stehen, ist nicht «Papier oder Web» sondern «gratis oder gegen Bezahlung», egal ob auf Papier oder im Netz.
Vor einigen Jahren zeigte eine amerikanische Studie (in der Metropolregion Baltimore in Maryland), dass 95 Prozent der für die Lokalbevölkerung bestimmten Informationen im Netz aus herkömmlichen Medien bestanden, namentlich aus Zeitungen, Lokalfernsehen und Lokalradios (Pew Research Center Journalism & Media, «How News Happens», Januar 2010). Wenn die Zeitungen eine Woche lang streikten, hätten die Menschen keine Informationen mehr: Das Web produziert keine eigenen News, sondern es nutzt und verwertet Informationen aus Zeitungen, Lokalfernsehen und Radio weiter. Blogs, Internetportale und andere Online-Angebote produzieren selbst nur einen winzigen Teil von Nachrichten. In Wahrheit beschränken sie sich darauf, die von den Zeitungen produzierten Informationen zu kopieren (oder eigentlich zu stehlen). Ausserdem zeigte die Studie, dass die News Dritter erst noch relativ nachlässig übernommen werden. Es wird, kurz gesagt, geschlampt. Google, Facebook, Twitter haben keine Redaktionen mit Fachleuten, die Informationen recherchieren, Interviews machen, Reportagen verfassen: Google, Facebook und Twitter nutzen Informationen, Interviews und Reportagen, die die Journalisten ins Netz stellen, und zwar ohne Gegenleistung.
Wenn ich sehe, wie Journalistinnen und Journalisten ihre Artikel oder Interviews auf Facebook oder Twitter posten und allen zugänglich machen, würde ich ihnen am liebsten sagen: Die Stunden, die du aufgewendet hast, um diesen Artikel zu schreiben, den du nun deinen Freunden auf FB und deinen Followern auf Twitter schenkst, die sollte man dir eigentlich von deinem Lohn abziehen. Denn diese Journalistin oder dieser Journalist vernichtet eigenhändig den wirtschaftlichen Wert ihrer oder seiner Arbeit. Und daher sollte sie oder er logischerweise auch nicht dafür bezahlt werden.
Kürzlich veröffentlichte die italienische Zeitung La Stampa (die dieses Jahr den 150. Geburtstag feiert) ein Interview mit dem Chefredaktor der brasilianischen Zeitung O Globo. Darin erklärt er, dass seine Zeitung auf ihrer Webseite «ab fünf gelesenen Artikeln kostenpflichtig ist». Auf die Frage, ob das funktioniere, erwidert er: «Man muss noch daran arbeiten. Die Leute geben ihr Geld für Vergnügen aus, für Sport und Film, doch für Nachrichten sind sie noch nicht bereit zu zahlen.» Klar, denn wer hat die Leserschaft daran gewöhnt, kein Geld für Informationen auszugeben? Vielleicht jene, die seit 15 oder 20 Jahren gratis Informationen im Internet verschenken?
Fabio Pontiggia ist Chefredaktor des Corriere del Ticino.