Das Glück ist mit den Tapferen

In der Schweizer Marketing- und Kommunikationsbranche herrschen sowohl ein Diktat der Mittelmässigkeit als auch eine Risikoaversion, die ihresgleichen suchen. Das ist problematisch, aber nicht unumkehrbar – wenn die Verantwortlichen zu offener Selbstkritik bereit sind.

(Illustration: Silvan Borer)

Journalisten, so sagte einst der deutsche Satiriker Karl Kraus, seien jene Menschen, die hinterher immer alles vorher gewusst haben wollen. Zweifellos ist sein Vorwurf nicht gänzlich von der Hand zu weisen; insbesondere wenn Journalisten nicht nur als Berichterstatter, sondern auch als Kritiker auftreten. Dann kann man ihnen stets entgegnen: «Wenn ihr es wirklich besser gekonnt hättet, warum habt ihr es dann nicht selbst getan?»

Nun, vielleicht weil viele von uns (der Autor dieses Artikels schliesst sich hier explizit mit ein) eher für die Theorie als für die Praxis geeignet sind. Vielleicht aber auch, weil es zu jeder «Ebene» eine «Meta-Ebene»; zu jedem Produkt eine unabhängige Bewertung geben muss – das konstituiert das Wesen öffentlicher Debatten, egal, ob diese in Wirtschaft oder Politik und ganz gleich, zu welchem Thema sie geführt werden. Es braucht die einen, die «tun», und die anderen, die das Ergebnis analysieren.

Wenn man dieser Prämisse folgt und sie auf die Schweizer Marketing- und Kommunikationsbranche anwendet, dann kommt der DirectDay 2022 wirklich keinen Tag zu früh: Dessen Motto «Bold is Gold» stemmt sich nämlich, beinahe Jakob Bossharts berühmtem «Rufer in der Wüste» gleich, einem Diktat der Mittelmässigkeit und der Risikoaversion entgegen, das sich in in der Kommunikationswirtschaft unseres Landes etabliert hat. Dies wäre zumindest die Analyse aus meinem Elfenbeinturm des Wirtschaftsjournalismus, der man Gehör schenken kann (oder gegen die man, wie einleitend gesagt, Karl Kraus ins Feld führen mag). Die Gründe für meine Beobachtungen sind mannigfaltig, sie sind kaum einem einzelnen Individuum persönlich übel zu nehmen und man könnte ein Buch (oder mindestens eine HSG-Masterthesis) darüber schreiben, wie sich die Branche in einen Konformismus ­hineinmanövriert hat, aus dem sie sich nun kaum noch herauszuziehen mag. Aber damit wäre zu wenig geholfen in einer Zeit, wo steigende Inflation und Rezession schnelles Agieren erfordern. Die handelnden Stakeholder müssen, statt den Status quo zu über-analysieren, rasch und «bold» das Heft in die Hand nehmen – weil es Wahnsinn wäre, jetzt nichts zu wagen.

«Risikobewusstsein, reversed»

Wie «Werber des Jahres» David Schärer im Interview links andeutet, ist dafür zunächst eine totale Umkehr des Risikobewusstseins aller an den Prozessen der Branche Beteiligten vonnöten. Marketing- und Kommunikationsverantwortliche, die Etats verwalten (und dabei, zugegeben, häufig einen schweren Stand haben: Laut der «Harvard Business Review» empfinden um die achtzig Prozent der amerikanischen CEOs ein «latentes» oder «akutes» Misstrauen gegenüber ihren CMOs – Zahlen, die in der Schweiz ähnlich sein dürften), müssen endlich von dem Grundsatz «Don’t fix what isn’t broken» abkommen. Mittelmässiges, auf vermeintliche «Sicherheit» setzendes Marketing bewahrt den Status quo nicht, sondern gefährdet ihn mittel- und langfristig. Der Gedanke, dass «ein weiteres Jahr Schokoriegel auf weissem Hintergrund» als Kampagnenidee schon genügen würde, um die Verkaufszahlen an den Valora-­Kiosken konstant zu halten, mag verlockend erscheinen. Aber was, wenn in besagtem Jahr ein Mitbewerber auftaucht, der die gesamte Schweiz mit einer Guerilla-Kampagne überzieht und ihnen den sorgfältig kultivierten «share of wallet» so richtig schön ruiniert? Ich habe einen Verdacht, wo die (ohnehin schon misstrauischen, siehe oben!) CEOs nach «Bauernopfern» suchen würden. Also gilt als neue Losung, gerade in schwierigen Zeiten: Riskant ist nicht, etwas Aussergewöhnliches zu tun; riskant ist, gar nichts zu tun.

Haltung ist «bold» – oder beliebig

Gehen wir noch einen Schritt weiter: Behauptet Ihr Unternehmen, eine Haltung zu vertreten? Schreibt es sich etwa die Gleichheit aller Mitarbeitenden, egal, welche Herkunft oder Sexualität diese haben, auf die im «Pride Month» vor der Zürcher Firmenzentrale gehissten Regenbogen-Flaggen? Und wird damit dann ordentlich Eigenwerbung gemacht? So sehr dieses Handeln im Grundsatz zu begrüssen ist: Das ist keine Haltung, das ist billige Symbolpolitik. Die paar Ewigges­trigen, die sich in der Schweiz noch an solchen Kommunikationsmassnahmen stören, sind nicht relevant. Auf Haltung basierendes Marketing wird nur dann glaubwürdig, wenn es Menschen gibt, die dadurch wütend gemacht werden. Ja, wütend! Wenn dieselben Flaggen auch vor den Büros in Moskau, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder afrikanischen Hauptstädten, wo «homosexuelle Propaganda» unter drakonischen Strafen steht, gehisst werden. Oder wenn Anhänger von Donald Trump ihre Turnschuhe verbrennen, weil Nike-Testimonial Colin Kaepernick offen gegen die xenophobe Politik des Ex-Präsidenten protestiert, ihn «seine» Marke aber trotzdem weiterhin unterstützt. Den Erfolg, den Nikes Haltungskampagne rund um Kaepernick danach hatte, haben Award-Jurys und Fachjournalisten weltweit gefeiert – und viele Marketer haben wohl einen gewissen Neid empfunden, selbst nie einen derartigen Impact ausgelöst zu haben. Aber, wie gesagt: Impact kommt durch gelebte Haltung, und gelebte Haltung ist «bold» – oder beliebig, und damit redundant.

Die Ökonomie der Aufmerksamkeit

Wer mit haltungsbasiertem Advertising nichts anfangen kann, der kann sich der Bedeutung einer ausdrucksstarken, von der Masse der Werbebotschaften klar differenzierten Kommunikation auch über reine Statistik annähern: Konservativste (!) Schätzungen gehen davon aus, dass Menschen im deutschsprachigen Raum mit 300 bis 500 Werbebotschaften pro Tag konfrontiert werden; andere Studien gehen von 3000 bis 10 000 solcher Botschaften pro Tag aus. Die Wahrheit wird irgendwo in der Mitte liegen – aber kombiniert mit der Informationsflut, die über unsere Mobiltelefone, unsere Laptops und Printmedien auf uns hereinprasselt, ist das – salopp formuliert – einfach eine ganze Menge Input. Und hier kommt sie nun, die Stunde der Wahrheit für alle Marketing- und Kommunikationsverantwortlichen: Würde Ihnen selbst das, was Sie bei Ihrer Agentur in Auftrag gegeben haben und was nun in der Schweiz oder international zirkuliert, unter «nur» 300 oder eben bis zu 10 000 anderen Botschaften auffallen? Wer das mit einem spontanen, überzeugten «Ja!» beantworten kann, dem oder der sei an dieser Stelle ein herzlicher Glückwunsch ausgesprochen. Wer zögert, hat sich die Frage eigentlich schon beantwortet – nämlich mit einem Nein. Und darum sind Veranstaltungen wie der DirectDay, die sich als Thema «Bold is Gold» vornehmen und damit hoffentlich ein paar Hundert Menschen (multipliziert via dieses Magazin allenfalls gar ein paar Tausend) zu einem Moment des Innehaltens bewegen, so wichtig. Diese Branche kann nicht so weitermachen wie bisher. Keiner verlangt Wundertaten von Ihnen, liebe Leserinnen und Leser. Nur ein kleines bisschen mehr Mut.


INTERVIEW

«Unter dem Strich ist die mutige immer die bessere Entscheidung»

Rod Kommunikation

David Schärer ist Gründungspartner der Agentur Rod und Werber des Jahres 2021/22. Im Interview – und auf der Bühne des DirectDay – spricht er darüber, warum die Maxime «Bold is Gold» meistens tatsächlich gilt.

m&k: David Schärer, als Sie das Motto des DirectDay 2022 gehört haben – was haben Sie spontan damit assoziiert?
David Schärer: Ich habe gedacht, dass ich die Maxime «Bold is Gold» grundsätzlich sofort unterschreiben würde. In unserem Geschäft ist Vertrauen enorm wichtig; es beeinflusst Entscheidungen in jedem Bereich enorm stark. Und weil man eher jemandem vertraut, den man «kennt», ist es essenziell, dass man zumindest schon mal von dem Unternehmen gehört hat, das mit einem in Kontakt treten will. 

Wie viel Mut braucht es heute, «bold» zu agieren?

In einer komplett fragmentierten Medienwelt, wo wir pro Tag einem Informationsgehalt äquivalent zu mehreren Tageszeitungen ausgesetzt sind, müssen Botschaften Durchsetzungskraft haben – sonst gehen sie unter. Das ist so offensichtlich, dass ich immer für eine Umkehr des «Risikodenkens» in der Branche plädiere: Die Frage «Was, wenn wir negativ auffallen?» wird gerne gestellt. Viel wichtiger wäre aber, Sorge zu haben, gar nicht aufzufallen.

 

Dafür müssen Sie die Entscheidungspersonen in den Unternehmen aus deren Komfortzone holen. Wie schwierig ist das?

Aufmerksamkeit kostet eine Menge Geld, und ich sehe es als eine unserer wichtigsten Aufgaben an, mit den Ressourcen unserer Auftraggebenden verantwortungsvoll umzugehen. Wir müssen sie also aus der Komfortzone der Mittelmässigkeit herausholen – und klar sagen: Wer in Erinnerung bleibt, sind die Nonkonformisten. Dafür legen wir uns im Team eine kohärente und «kugelsichere» Argumentation zurecht. Und ich beschreibe in Pitches gern die Wirkung einer Kampagne «vom Ende her»: Welches mediale Potenzial sehe ich in einem mutigen, polarisierenden Vorschlag? Welche Schlagzeilen können wir generieren? Das hilft enorm.

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