Markenfreiheit versus Medienzwang: Was wir von Mastodon lernen können

Bleiben oder wechseln? Die Turbulenzen um Twitter nach der Übernahme durch Elon Musk haben gezeigt, dass die gegenseitige Abhängigkeit von Content Marketing und Social-Media-Plattformen heikel ist. Um Klarheit zu gewinnen, hat die St.Galler Agentur Festland die Twitter-Alternative Mastodon getestet – mit wertvollen Aha-Momenten für die Markenführung.

Die Bilder zu diesem Artikel wurden vom Festland-Designteam mit Hilfe künstlicher Intelligenz kreiert.

«Let that sink in.» Mit diesem Tweet kommentierte Elon Musk seine Aktion, als er Ende Oktober 2022 ein Lavabo in der Lobby des Twitter-Hautpquartiers deponierte. PR-wirksam posaunte er mit dem Geschenk aus Porzellan in die Welt, dass er Twitter für 44 Milliarden US-Dollar gekauft und die Führung übernommen hat.

Vom Vogelkäfig in die Mammutherde

Nach der Übernahme regierte der neue Chef wie ein Elefant im Porzellanladen. Musks Entscheidungen und Entlassungen verunsicherten viele User:innen und Werbetreibende – und trieb sie in Scharen zu Mastodon, der Open-Source-Plattform, die 2016 als Alternative zu Twitter lanciert worden war.

Design und Funktionen von Mastodon sind dem Vorbild Twitter sehr ähnlich. Passend zum Namen ziert ein Mammut statt eines Vogels das Logo, und Beiträge werden getrötet statt gezwitschert. Der wesentliche Unterschied liegt im radikalen Open-Source-Prinzip: Mastodon ist keine geschlossene Plattform, sondern ein loser Verbund etlicher Anbieter, die alle ihren eigenen Mastodon-Server betreiben.

Das Experiment: Festland.social

Die Frage, ob man in Zukunft lieber tröten als twittern soll, bewog Festland, die Alternative zu testen. Unter Festland.social hat die Agentur kurz nach Musks Twitter-Kauf einen eigenen Mastodon-Server aufgesetzt. In den Wochen darauf wurde Mastodon als Channel im Content Flow von Festland ergänzt.

Zwar zeigte sich bald, dass der Hype um Mastodon abflachte und sich der Protest gegen Twitter legte – obwohl Elon Musk die User:innen und Werbepartner:innen weiterhin mit wirren Entscheiden irritierte. Das Mastodon-Experiment hat aber klarer gemacht, wie die Beziehung zwischen Unternehmen und Sozialen Medien funktioniert.

Tiefe Eintritts-, hohe Austrittshürden

Das Geschäftsmodell von Twitter, Meta, TikTok & Co. ist glasklar und knallhart: Community gegen Daten. Ohne eine eigene Plattform aufbauen zu müssen, können Marken die grossen Social-Media-Plattformen als Channel erschliessen und von deren Reichweite profitieren, kostenlos als Owned Media oder (dank Cost-per-Click-Modell) kosteneffizient als Paid Media.

Die Kehrseite der Medaille: Je grösser das Content-Archiv und die Community einer Marke auf einem Medium, desto grösser die Austrittshürden. Ein aktuelles Beispiel ist Schweiz Tourismus: Im Januar 2023 stellte MySwitzerland den deutschsprachigen Twitter-Kanal mit über 45’000 Followern ein. Nur wenige Hundert davon sind der Einladung gefolgt, auf den englischsprachigen Kanal zu wechseln.

Aber ist man den Big-Tech-Medien wirklich ausgeliefert? Aus den Beobachtungen, die Festland auf Mastodon gemacht hat, lassen sich drei Tugenden ableiten, um sich von der Macht der Plattformen zu emanzipieren.

Tugend 1: Experimente wagen

Die Welt der Social Media entwickelt sich weiter – und das ist schön so. Als Marke darf man sich diesem Wandel nicht verschliessen. Wer offen für Innovationen bleibt und mit neuartigen Medien experimentiert, vermindert sein Risiko, von der Entwicklung überrascht, wenn nicht gar überholt zu werden.

Schön ist auch, dass digitale Innovationen heute keine Rocket Science mehr sind. Es erzeugt wenig Aufwand und macht Spass, neue Optionen zu erkunden. Um den eigenen Mastodon-Server einzurichten, hat das Code-Team von Festland nur zwei Stunden benötigt. Noch weniger Mühe bereitet das Betreiben des Mastodon-Kanals. Weil die gleichen Beiträge auch auf LinkedIn und Twitter erscheinen, benötigt das zusätzliche Publishing keine zwei Minuten.

Tugend 2: Geduld aufbringen

 Neugierig sein heisst nicht überstürzt handeln. Auch wenn die dynamische Entwicklung der digitalen Welt einen gefühlten Druck erzeugt, Neuerungen schnell umzusetzen und Entscheide stetig zu hinterfragen, besteht kein Grund, vorschnell vom Experimentieren zum Investieren zu wechseln.

Man muss als Marke kein First Mover sein, um in der digitalen Welt erfolgreich zu sein – auch als Smart Follower hat man alle Chancen, am Medienwandel teilzuhaben. Und man ist erst noch davor geschützt, aufs falsche Pferd zu setzen. Man denke etwa an die Clubhouse-App, deren Stern im Jahr 2020 schneller verglühte, als er aufgestiegen war.

Geduld heisst aber nicht Nichtstun – Experimente lohnen sich. Das beim Ausprobieren gewonnene Know-how erlaubt es, solidere Entscheide zu treffen und die Time-to-Market von Innovationen zu verkürzen. Wer neugierig ist, trainiert seine Agilität im Wandel. Sollte Mastodon eines Tages stark an Relevanz gewinnen, wird es für Festland ein Leichtes sein, den Testkanal dauerhaft im Content Marketing zu verankern.

Tugend 3: Haltung zeigen

Bei allem Komfort und aller Reichweite, die Social Media haben: Sie sind kein Selbstzweck. Eine Präsenz auf einem Kanal ist nur sinnvoll, wenn und solange diese Präsenz auf den Purpose der Marke einzahlt, die relevanten Stakeholder erreicht und das Content Marketing mit klaren strategischen Zielen verbunden ist. Auch müssen Zielerreichung und Publikationsaufwand in gesunder Balance stehen.

Dieser Strategie-Match hat nicht nur eine kommerzielle, sondern auch eine ethische Komponente. Gerät wie im Fall von Twitter die Corporate Governance einer Plattform in Schieflage, kann allein schon das ein Grund sein, weniger Zeit und Geld in ein Medium zu investieren. Selbst dann, wenn dies einen Verzicht auf Visibilität und Reichweite bedeutet.

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