Internet, der Spiegel unserer Gesellschaft

KOLUMNE Die Titelgeschichte der SonntagsZeitung thematisiert Rassismus im Internet und schliesst daraus, dass Internet Hass und Gewalt fördere. So einfach ist das nicht. Eine Replik von Ellen Girod* von der Fachstelle Social Media an der HWZ in Zürich. Einen Kommentar auf Facebook melden. (Quelle: Eigener Screenshot aus Facebook.) Das Facebook-Logo zierte die gestrige Frontseite der […]

Facebok
Einen Kommentar auf Facebook melden. (Quelle: Eigener Screenshot aus Facebook.) Das Facebook-Logo zierte die gestrige Frontseite der SonntagsZeitung. Die Titelgeschichte zitiert rassistische Facebook-Kommentare gegen Juden oder Asylanten wie „Grad verschüsse. Sones Saupack bruched mer da nöd“ und kommentiert diese durch Wissenschaftler und Politiker. Fazit des Artikels: Im Internet könne sich ein Individuum hinter einer Gruppe verstecken, und diese Anonymität fördere Enthemmung und Radikalisierung. Kurz: Das Internet fördere Hass und Gewalt. So einfach ist das nicht. Denn unsere Welt war bereits voller Hass und Gewalt als World Wide Web am Cern noch nicht mal erfunden wurde. Hass und Gewalt dominieren auch heute die Schlagzeilen.Auch das Enthemmungsargument sticht nicht: Wir befinden uns im Jahr 2014 und nicht bei der Lancierung von Facebook. Spätestens seit Snowden weiss jeder einigermassen erfahrene Internet-Nutzer, dass seine Tweets und Posts, einem Ausruf an der Bahnhofstrasse entsprechen. Was du nicht an der Bahnhofstrasse schreien würdest, lässt du auch im Netz sein. Auch wenn der Online-Gruppendruck gross und die Hemmschwelle auf die schön designten Social-Media-Buttons wie „Like“ oder „Antworten“ zu klicken klein ist: Auf der digitalen Strasse im Netz lässt es sich nur fast so gut in der Menge verstecken, wie auf einer normalen Strasse während einer Demo. Fast, weil die digitale Welt alles speichert und nichts vergisst. Fast, weil deine digitalen Schreie mit deinem Namen, Avatar und der IP-Adresse deines Smartphones oder Laptops verknüpft sind. Daten, welche während einer Strassendemo schwerer zu eruieren sind.

Doch genau wie auf der Bahnhofstrasse gilt auch auf der digitalen Strasse Zivilcourage bzw. Eingreifen der Polizei. Zivilcourage heisst: Mut der Bürger rassistische Diskriminierung (z.B. auf Facebook) anzuzeigen. Mut in Online-Diskussionen eine andere Meinung zu äussern. Und dieser Mut findet im Netz sehr wohl statt. Als Beispiel siehe man die Online-Empörung, welche Bortoluzzis diskriminierende Hirnlappen-Äusserung auslöste. Oder den ehemaligen SVP-Politiker, der wegen seines Kristallnacht-Tweets erst sein Amt verlor und später schuldig gesprochen wurde. Was auf unseren digitalen Strassen tatsächlich fehlen mag, ist eine Polizei. Eine Polizei, welche die Erste-Mai-Demo bewacht, aber welche (noch) nicht bei jeder spontanen Mini-Demo im Netz (eine Gruppen-Diskussion oder Shitstorm) aufkreuzt. Von wem diese gewaltige Aufgabe einer Netzpolizei ausgeübt werden soll, will Martine Brunschwig Graf von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus in den nächsten Wochen mit Facebook aushandeln.

Dass Politik sich damit befasst, ist richtig. Denn Gewalt und Rassismus sollen im Netz genauso wie in der physischen Öffentlichkeit von der Polizei bekämpft werden. Die Empörung der Politiker über Rassismus im Netz erinnert allerdings an die Empörung der Ergebnisse der MEI-Abstimmung. Internet ist kein Brandbeschleuniger, sondern ein Spiegel unserer, in diesem Fall, schweizerischen Gesellschaft.

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