«Die meisten Unternehmen müssen komplett umdenken»

Als Senior Sales Lead der Experience-Plattform von Adobe kennt sich Markus Erwin bestens mit dem Management von Kundenerlebnissen aus. Im Gespräch mit Werbewoche.ch erklärt er, warum dieses heute praktisch in Echtzeit funktionieren muss – und wie sich das Ende von Third Party Cookies auf den Marketing- und CXM-Bereich auswirken könnte.

Werbewoche.ch: Markus Erwin, im digitalen Marketing allgemein – und im Customer Experience Management ganz speziell – ist derzeit so vieles im Umbruch, dass ich kaum weiss, wo ich mit meinen Fragen ansetzen soll. Beginnen wir vielleicht beim auch in der Schweiz viel diskutierten Ende der Third Party Cookies, das uns 2024 bevorsteht: Was bedeutet das für die Bereiche Marketing und CXM?

Markus Erwin: Nun, das ist ein derart umfangreiches Thema, da könnte ich bis heute Abend drüber sprechen (lacht). Aber ich versuche, mich kurz zu fassen. Die Zeiten, in denen man sich einfach zurücklehnen und sagen: «Wir schauen mal, wo die Reise hingeht» … diese Zeiten sind definitiv vorbei. Das Ende der Third Party Cookies wird einen Paradigmenwechsel im digitalen Marketing und im Customer Experience Management einläuten. Wer sich jetzt nicht ernsthaft mit der Thematik beschäftigt, wird in etwa einem Jahr kaum noch in der Lage sein, in den genannten Bereichen professionell und strukturiert zu agieren. Das ist keine Übertreibung, keine Dramatisierung – das ist einfach Tatsache. Targeting ohne Cookies würde dann noch via große Tech-Unternehmen funktionieren; aber es wären immer «Gatekeeper» zwischengeschaltet, die ihre eigenen Lösungen promoten und verkaufen wollen.

 

Können Sie das an einem Beispiel besser verständlich machen?

Nehmen wir an, Sie sind verantwortlich für eine Sportartikel-Marke wie zum Beispiel Nike, Adidas oder Puma. Sie verfügen bereits über eine enorme Bekanntheit und potenzielle Kund:innen schauen «von alleine» auf Ihrer Online-Präsenz vorbei. Aber: Alles, was Menschen nach dem Ende von Third Party Cookies anonym dort «machen» – also: was sie suchen, was sie anklicken, wo sie verweilen – können Sie als Markenverantwortliche:r künftig nicht mehr benutzen, um daraus über andere Domains hinweg Kampagnen hinweg zu generieren. Retargeting, wie wir es heute kennen, ist dann passé. Das ist übrigens nicht nur für die Unternehmen selbst ein Problem – sondern auch für Publisher, die in ihren Artikeln Platz für automatisch generierte Werbung schaffen. Denn auf welcher Grundlage wird diese Werbung an das User:innen-Verhalten angepasst, wenn es keine Third Party Cookies mehr gibt?

 

Gibt es eine Lösung?

Es gibt meiner Ansicht nach verschiedene Strategien, um den angesprochenen Problemen zu begegnen. Zunächst müssen die meisten Unternehmen komplett umdenken und First Party Cookies priorisieren – also die Customer Experience in Echtzeit an das Verhalten der User:innen anpassen, so lange diese noch auf der eigenen Online-Präsenz sind. Das Ziel darf nicht mehr sein, Traffic via andere Domains zurückzuholen oder über «Gatekeeper» einzukaufen, sondern man muss auf bestehende First Party Daten zurückgreifen. Dazu wird ein agiles Customer-Experience-Management benötigt, das die Menschen freiwillig auf der Online-Präsenz hält. Wenn Kund:innen merken, dass sich eine Website immer personalisiert und ihnen nach wenigen Sekunden die Dinge anbietet, für die sie sich am meisten interessieren, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass sie das Produkt kaufen. Oder sie erinnern sich auch ohne Retargeting an das Erlebnis und kommen nochmal zurück. Das ist eine Strategie.

 

Was kann man noch tun?

Partnerschaften werden enorm an Bedeutung gewinnen, beispielsweise mit Publishern. Da mit dem Ende der Third Party Cookies der Wert ihrer Werbeinventaren enorm sinken wird, haben sie ein Interesse daran, für die Auftraggeber:innen zumindest einen gewissen Grad der Personalisierung anzubieten. Sie verfügen über Login-Strukturen für ihre User:innen; kennen diese also. Hier muss zusammen kommen, was zusammen gehört; und man muss neue Werbe-Produkte entwickeln, die auf die angemeldeten Nutzer:innen zugeschnitten sind.

 

Sie haben gerade selbst gesagt, dass die Zeit drängt – und über manches noch gar nicht gesprochen wird. Ist in den Unternehmen ausreichend Awareness vorhanden für das, was kommt?

Ich glaube, die Awareness, dass eine massive Disruption bevorsteht, ist gegeben. Zumindest bei jenen, die sich – wenn auch nur ganz rudimentär – mit der Thematik Third Party Cookies, Marketing und CXM auseinandersetzen. Die meisten Firmen wissen auch, «dass sie etwas tun müssen». Aber: Was genau? Da besteht oftmals noch Erklärungsbedarf. Wir führen viele Gespräche, in denen uns Personen fragen: «Welche Software von Adobe brauche ich denn, um das Problem zu lösen? Ich bin bereit, die zu kaufen!» Und dann müssen wir antworten: «Sie brauchen unsere Software erst, wenn Sie Ihr gesamtes digitales Customer Experience Management neu konzipiert haben.» Geschieht das nicht, ist auch das beste Tool nutzlos.

 

Customer Experience neu konzipieren da denke ich wiederum an ein Thema, das schon seit vielen Jahren die Runde macht. Nämlich, dass man die Kund:innen-Daten, die man schon besitzt, endlich anständig organisiert, verwaltet und schliesslich klug nutzt. Viele Firmen sitzen ja auf einem brach liegenden «Datenschatz» … dem könnte nun eine ausserordentliche Bedeutung zukommen.

Davon bin ich überzeugt. Grossunternehmen, aber auch KMUs, haben beispielsweise durch Bestellinformationen, Anfragen, Newsletter-Anmeldungen jede Menge Daten, die ihnen Menschen freiwillig zur Verfügung gestellt haben – allerdings werden sie nur selten für eine holistische, zentralisiert gesteuerte – und vor allem individuelle – Ansprache genutzt. Wenn Sie zum Beispiel mit Adobe beginnen, Ihre Daten zu ordnen – und merken, dass das gut funktioniert – können Sie später weitere Kampagnentools zuschalten; je nachdem, was für Bedürfnisse Sie haben. Mailings, Analytics, kreative Marketing-Solutions – die geordneten Daten als Basis sind ja schon da, Sie müssen nur noch Bausteine hinzufügen.

 

Sie glauben also, dass die Arbeit mit Plattform-Lösungen seien es jetzt jene von Adobe oder von anderen Anbietern der Schlüssel zur Nutzung brach liegender Daten ist … und damit auch ein wirksames «Gegenmittel» für eine Zeit ohne Third Party Cookies?

Ich halte im Bereich Marketing-Technologie sehr viel von modularen Solutions. Denn wer möchte schon zwanzig, 30 verschiedene Anbieter für unterschiedliche Anwendungen bezahlen und mit jedem dieser Anbieter mehrmals im Jahr Rücksprache halten? Und dann lassen sich diese Anwendungen oft noch nicht einmal miteinander kombinieren; man kann wieder keine kohärenten und verknüpften Kampagnen ausspielen. Daher empfehlen wir eine an individuelle Herausforderungen angepasste, kontinuierlich veränderbare Plattform als Basis all der Marketing- und CXM-Aktivitäten eines Unternehmens.

 

Vorhin sprachen Sie zwar von einer gewissen Investment-Bereitschaft potenzieller Kund:innen, mit denen Sie Kontakt haben. Dennoch: Eine Neukonzeption der Customer Experience-Strategie und allenfalls die Implementierung einer neuen Plattform-Lösung kosten eine Menge Zeit und Geld. Lohnt sich das mittelfristig wirklich?

Das lohnt sich sogar schon ziemlich kurzfristig. Der Return-on-Investment ist bei einem Projekt, bei dem Sie zunächst mal Ihre Kundendaten sortieren, nur schwer unmittelbar zu quantifizieren. Man kann nicht sagen: «Wenn wir aufräumen, bringt uns das im nächsten Quartal Mehreinnahmen in Höhe von Betrag X.» Aber aufräumen muss man trotzdem! Und dann auch klug mit dem, was man hat, arbeiten. Richtige Daten im richtigen Kanal, falsch segmentiert, werden nicht zum Erfolg führen. Sie verlieren dadurch als Unternehmen de facto Geld. Richtige Daten, richtig kanalisiert und segmentiert, aber zum falschen Zeitpunkt ausgespielt, bedeuten ebenfalls einen Misserfolg und damit den Verlust von Geld. Ich weiss, dass es – je nach Technik-Verständnis von CEO oder CFO – manchmal schwierig sein mag, entsprechende Projekte zu begründen. Aber wenn die Maschine läuft, zeigt sich meistens nach sehr kurzer Zeit, dass Umsätze steigen und datengestützte Marketing-Technologie eben doch einen konkreten ROI bewirkt.

 

Können Sie mir auch hierzu Beispiele nennen?

Mir fallen dazu zwei User Cases ein. Das ist einmal der «Warenkorbabbrecher», ein Klassiker: Jemand, der schon fast eine Kaufentscheidung getroffen hat – und dann den Prozess abrupt beendet. Wenn ich via Daten verstehe, was diese Person dazu veranlasst und einen Teil meiner «Abbrecher» in Kund:innen konvertiere, dann steigere ich meine Umsätze in kürzester Zeit signifikant. Bauhaus hat beispielsweise den Umsatz steigern können, indem das Unternehmen Adobe Analytics eingesetzt hat, um zu sehen, wo die Kund:innen wann abbrechen und dann mit Adobe Target die Ansprache justiert.

 

Und das andere Beispiel?

Das andere Beispiel nimmt eine andere Perspektive ein. Daten können mir helfen, zu verstehen, welche Kund:innen gerade kein Marketing wollen – etwa weil meine MarTech-Plattform mir sagt, dass diese Person schon drei Mal die Hotline angerufen und sich beschwert hat. So jemand möchte keine Werbung von mir, der möchte nur Support. Wie viele Schweizer Franken liessen sich einsparen, wenn jede Firma wüsste, wer gerade empfänglich für welche Art von Kommunikation ist.

 

Bei all der Technologie wird da der Chief Information Officer künftig wichtiger als der Chief Marketing Officer?

Das würde ich nicht unterschreiben, aber: Marketer ohne grundlegendes Datenverständnis werden in Zukunft in der Unternehmenshierarchie kaum mehr ins C-Level aufsteigen. Es ist zwar völlig in Ordnung und auch gewünscht, dass sich CMOs weiterhin primär um den kreativen und den strategischen Teil werblicher Kommunikation kümmern, aber sie können nicht auf datengetriebene Strukturen verzichten. Sie müssen ihre Hypothesen testen; müssen sehen, wann an einem Punkt im Prozess überproportional viele Kund:innen abspringen und erkennen, warum. Wir schalten mit unserer Plattform quasi die roten Lämpchen im Maschinenraum an, aber die CMOs müssen hinschauen. Dafür brauchen sie keine vertieften IT-Kenntnisse. Aber wenn jemand die Prämisse, dass Daten, deren Management und deren Verwertung essenziell für den Erfolg einer Kampagne sind, nicht unterschreibt – dann sehe ich, ehrlich gesagt, schwarz.

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