Augmented Reality: Das «Next Big Thing»

Google, Apple, Facebook, Microsoft und zahlreiche weitere Schwergewichte setzen auf Augmented Reality als einen der ganz heissen Kandidaten im Sinne eines «Next Big Thing». Am Beispiel Online-Shopping erklärt Ulrich Clemens von Scanblue Engineering, warum das so ist.

Augmented reality marketing concept. Hand holding digital tablet

AR schickt sich an, das Einkaufs-Erlebnis von allen, die tagtäglich online einkaufen, grundlegend zu verändern. Man kann nun – und das ist keine Zukunftsmusik – schon heute die Produkte zuhause in Originalgrösse in sein Wohnzimmer, Schlafzimmer oder Büro stellen und dann von jeder Seite, in jedem Blickwinkel und in jedem Detail erkunden und natürlich auch eingehend prüfen, ob es in seinem künftigen Umfeld wie gewünscht wirkt.

Betrachten wir aber rückblickend die Entwicklungen im Bereich Augmented und Virtual Reality, dann folgten in schöner Regelmässigkeit Hype und Ernüchterung aufeinander. Offenkundig fiel es Protagonisten, Journalisten und Analysten schwer, die Zukunft auch nur halbwegs präzise zu prognostizieren. Hier mangelte es stets an einer Killer-Applikation, die diesen Technologien zum breiten Durchbruch geholfen hätte.

Wie sehr die Nutzung von AR unsere Welt zu verändern vermag, liess sich im Jahr 2016 erahnen, als man über Pokémon-Go-Spieler stolperte, die auf unseren echten Strassen virtuelle Wesen jagten. Nun gibt es aktuell zwei technologische Entwicklungen, aus denen die erwähnte Killer-Applikation – AR im Online-Handel – entstanden ist.

 

Integraler Bestandteil von iOS und Android

Die erste dieser technologischen Entwicklungen ist die tiefe Integration von AR in die mobilen Betriebssysteme iOS und Android durch Apple und Google. Hintergrund ist, dass sowohl Apple als auch Google das enorme Potenzial von AR für das Einkaufen, Spielen, Lernen und für unzählige weitere Anwendungsgebiete erkannt haben. In Folge wurden sie zu den Treibern dieser Technologien.

Neuster Stand ist nun, dass jedes moderne Smartphone und Tablet beim Blick durch die Kamera virtuelle Objekte in der uns umgebenden, realen Welt platzieren kann – und das ganz ohne App. Hierzu erkennen die mobilen Geräte Wände, Böden, Decken, Gegenstände und andere Personen im Umfeld und geben dem User damit die Möglichkeit, das, was er kaufen möchte, in seinem persönlichen Umfeld zu begutachten. Die Sensorik der Geräte ist derart präzise, dass hier erstaunliche Effekte möglich sind. Die Youtube-Videos beider Global Player lassen erahnen, wie unsere Welt sich dadurch verändern wird.

 

Digitalisierung physischer Produkte ist schnell und günstig geworden

Um AR im Onlineshopping einsetzen zu können, muss es zusätzlich aber möglich sein, nahezu jedes physische Produkt digitalisieren zu können, damit wir uns seinen digitalen Zwilling dann bei uns zuhause anschauen können, bevor wir ihn online einkaufen. Und genau dies ist der zweite Technologiesprung, der vor kurzem stattgefunden hat: Es stehen Scantechnologien zur Verfügung, die es jedem Online-Händler ermöglichen, seine Produkte entweder selbst zu digitalisieren oder dies als Dienstleistung in Auftrag zu geben.

Damit das Ergebnis dieser Digitalisierung zufriedenstellt, müssen die Scantechnologien aber einige Anforderungen erfüllen: Die Objektoberflächen müssen gestochen scharf in HD-Fotoqualität wiedergegeben werden, Glas und Metall müssen brillant erscheinen, Mikrostrukturen auf den Objektoberflächen müssen dafür sorgen, dass man zum Beispiel Leder oder Hölzer als Naturwerkstoffe wahrnehmen kann, und selbstverständlich muss das Ganze auch für grosse Stückzahlen an Produkten und in möglichst kurzer Zeit funktionieren. Last but not least müssen die Algorithmen bei der Digitalisierung dafür sorgen, dass die Dateigrössen dieser digitalen Produktzwillinge möglichst winzig bleiben. All das ist heute kostengünstig, schnell und effizient möglich.

 

Signifikant mehr Umsatz durch AR

Die beiden Technologiesprünge sorgen dafür, dass nun nahezu jeder Onlinehändler seine Produkte nicht nur mittels statischer Fotos, Videos und Erläuterungen online anpreisen kann, sondern dass sein Kunde auch die Möglichkeit erhält, das Produkt in Originalgrösse und detailgetreu zuhause zu betrachten. So ist es möglich, ein Sofa, ein Regal oder eine Vase, aber auch Küchen, Elektrogeräte und vieles mehr in der eigenen Wohnung anzuschauen und auf dieser Grundlage eine bessere Wahl zu treffen. So verringert sich die Gefahr eines Fehlkaufs, indem man beispielsweise zu grosse oder zu kleine Möbel anschafft.

Eine erste Studie der Universität Göttingen aus dem Jahr 2019 lässt darauf schliessen, dass Käufer im Rahmen des Online-Shoppings bereit sind, signifikant mehr Geld für ein Produkt auszugeben, wenn sie es vor dem Kauf zuhause in AR begutachten konnten. Weitere nachfolgende Studien sollen diesen Effekt stützen und die Gründe für dieses Verhalten ermitteln. Durch den Einsatz von AR kann somit nicht nur ein höherer Umsatz generiert, sondern auch die Retourenquote und damit die Versandkosten gesenkt werden.

 

Vielversprechende Zukunft

Natürlich ist AR auf Smartphones und Tablets nur ein erster Schritt. Stellt man sich aber vor, dass wir Objekte nicht mehr durch ein Gerät in unserer Hand, sondern im gesamten Blickfeld unserer Augen sehen könnten, wäre das nochmal ein enormer Schritt. Die logische Folge ist, dass vermutlich ganz normale Brillen ein nachrüstbares Feature erhalten, mit dem sie AR-Objekte in die Umgebung projizieren können.

Intel hat hier vor einiger Zeit einen Prototypen entwickelt, der genau das mittels eines kleinen, am Brillengestell befestigten Projektors realisiert hat: Das AR-Bild wurde so auf die Netzhaut des Auges projiziert. Auch Kontaktlinsen, die für ein AR-Bild sorgen, wären denkbar. Hier wird sich unsere Welt ganz sicher noch sehr deutlich weiterentwickeln. Und die Gerüchteküche brodelt weiter: von Apple sei demnach in Kürze ein Produkt mit genau dieser Zielrichtung zu erwarten.

 

Fazit

AR ist dabei, das Einkaufsverhalten gerade beim Online-Shopping zu revolutionieren – dank zweier aktueller technologischer Entwicklungen, die zeitgleich und passgenau zusammenspielen: Auf der einen Seite die Technologien zum Erstellen der «digitalen Zwillinge» der Onlineshop-Produkte; diese digitalen Abbilder sind nötig, damit die Produkte überhaupt virtuell im realen Raum positioniert werden können. Zum anderen die Erkennung des realen Raumes durch das Smartphone oder Tablet. Damit kann der Shop-Besucher nun mit einem einzigen Klick – ohne mitten im Shopping-Prozess eine App herunterladen zu müssen – jedes Produkt in Originalgrösse und absolut detailgetreu zuhause begutachten.

Ulrich_Clemens_1

* Ulrich Clemens ist CMO von Scanblue Engineering. Das Unternehmen ist auf die 3D-Digitalisierung physischer Produkte spezialisiert.

Weitere Artikel zum Thema