Warum die Zeitung nicht mehr Zeitung heissen darf

Das Editorial von Chefredaktorin Anne-Friederike Heinrich aus der Werbewoche 15/16.

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Wörter sind klug. Sie saugen auf, was ihr sprachliches Umfeld und die Epoche, in der sie gesprochen werden, für sie bereithält. Das macht Wörter aber auch zu Problemkindern – denn haben sie sich einmal mit Bedeutung vollgesogen, bringt man diese nicht so schnell wieder zum Verschwinden. Wörter verraten durch feine Nuancen, wie ihr Sprecher im Innersten fühlt und denkt, sie können manipulieren und irreführen. Wörter setzen Bilder frei. «Worte sind Taten», erkannte Ludwig Wittgenstein. Darum empfiehlt es sich, sie mit Bedacht zu wählen.

Es kommt vor, dass Wörter im Sprachgebrauch ausgetauscht werden ( müssen ). Weil sie sich dermassen mit Kontext aufgeladen haben, dass sie in einer neuen Zeit nicht mehr funktionieren, an Überholtes, Verdrängtes erinnern oder weil ihre Färbung einen Geist widerspiegelt, den man in der Flasche lassen sollte. Heute sagt man nicht mehr Fräulein, weil sich Frauen über mehr definieren als nur über ihren Ehestand. Heute sagt man nicht mehr Neger, weil ( oder wenigstens wenn ) man begriffen hat, dass Menschen aus Afrika nicht weniger wert sind, als Europäer oder Asiaten. Heute sagt man nicht mehr Führer, weil es einen gab, der in die gewaltige Irre führte. Schon Anführer wird gefährlich. Und auch das Wort Volk nimmt man nur noch vorsichtig in den Mund. Man sagt heute nicht mehr Natel, wenn man nicht von vorgestern sein will, weil Mobile etwas ganz anderes transportiert. Der Kontext, den Wörter mit sich tragen, kann in einem neuen Sprachumfeld so stören, dass man andere Begriffe für das Gemeinte finden muss.

Ähnlich erging es dem, was wir heute Kommunikation nennen: Aus Propaganda wurde Reklame, aus Reklame Werbung und aus Werbung irgendwas mit Kommunikation. Kommunikation ist immer gut. Nicht zu verwechseln mit Marketing! Und nun ist also die Zeitung dran. Wie nennen wir die Zeitung, wenn sie im DIN-A4-Format erscheint, auch digital ist; und ein Shop; und eine Ticketagentur; und ein Reisebüro; und ein Geschenkartikelhersteller …? Leseangebot mit Zusatz? Das Wort Zeitung ist für seinen Inhalt nicht mehr gross genug.

Die Newspaper Association of America, der Verband der nordamerikanischen Zeitungsverleger, hat sich kürzlich in News Media Alliance umbenannt. Mit dem Verzicht auf das Wort Newspaper reagierten die Funktionäre auf massenhafte Schliessungen von Print-Redaktionen, hiess es. Ach, so einfach ist das! Was ich nicht beim Namen nenne, das gibt es auch nicht. Wie ein Kind, das fest die Augen zukneift, weil es lieber im Wald wäre, als in der Kita.

Aber Unsinn hin oder her, der Trend ist klar: Zeitung klingt altbacken, aus dem vorletzten Jahrhundert. Wer Zeitung hört, denkt heute immer noch an dünnes Papier, abfärbende Druckerschwärze und XXL-Format, auch wenn es kaum noch eine Zeitung ohne Digitalvariante gibt. Zeitung hat sich bereits mit dem Kontext des Niedergangs vollgesogen, von dem wir dauernd reden. Buch ist die Definition von Text zwischen zwei Deckeln, E-Book seine moderne Version. Das kann so bleiben. Zeitung aber ist vom Qualitätssiegel zum Schimpfwort geworden. Glücklich, wer mit seinem Printprodukt in letzter Minute den Switch zu Magazin schafft, denn Magazin kann alles: klingt hochwertig, schmeckt nach Farbe und Unterhaltung, kann gedruckt und/oder digital daherkommen und Sachen nebenher verkaufen. Aber haftet Magazin im Unterschied zur harten Wissenswährung Zeitung nicht auch ein wenig billige Muse an ? Nun, besser als der nahe Tod.

Die Kernaufgabe von Journalisten ist das Hinterfragen, auch von Wörtern. Mache ich Journalismus oder Content ? Eine Zeitung, ein Magazin oder News und Media? Wörter setzen Bilder frei. Wir selbst müssen darauf achten, dass es nicht die falschen sind.

Anne-Friederike Heinrich, Chefredaktorin

f.heinrich@werbewoche.ch

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