Zur Sache: Vom Auge direkt ins Herz

Über die Frage, was Journalisten wann, wo und wie veröffentlichen dürfen, wird wieder einmal öffentlich debattiert. Im bayerischen Bad Aibling ist ein furchtbarer Zugunfall passiert, bei dem zehn Menschen ums Leben gekommen sind.

Wer von einem solchen tragischen Ereignis erfährt, will es normalerweise genau wissen, möglichst schnell: Was ist passiert? Wie konnte das passieren? Sind Menschen verletzt worden oder gar gestorben? Gibt es Bilder vom Unfall, die vorstellbar machen, was dort geschehen ist?

Das hat nichts mit Sensationsgier zu tun oder mit abartigen Ambitionen, sondern mit der Neugier des Menschen, der über das Geschehen in seiner Umgebung Bescheid wissen will; der sich vom Leid anderer Menschen berühren lässt, der mitempfindet, Ereignisse für sich gedanklich noch einmal nachspielt, um sie zu verstehen – und im Normalfall wohl auch froh ist, dass ihm nicht das Gleiche wider­fahren ist.

In diesem Prozess haben Bilder eine hohe Be­deutung. Sie lassen den Betrachter Sachverhalte und Begebenheiten unmittelbar erfahren, transportieren Informationen ohne den Umweg übers Gehirn vom Auge direkt ins Herz.

«ARD-aktuell» beantwortete einige der drängenden Fragen seiner Zuschauer zum Unglück in Bad Aibling mit einer umfassenden Berichterstattung, darunter eine zehnsekündige Videosequenz aus dem Inneren eines der verunglückten Regionalzüge, gefilmt von einem Betroffenen (Werbewoche.ch berichtete).

Warum filmt einer, der in einem Zug sitzt, der gerade schwer verunglückt ist, der vielleicht blutet, sich angeschlagen hat, was er sieht? Weil er in dem Moment denkt: «Das verkauf’ ich an die ARD!» oder «daraus mach ich einen viralen Hit»? Oder weil der reflexartige Griff zum Smartphone ihm in diesem Moment hilft, Ruhe zu bewahren, Distanz zum Geschehen auf­zubauen und zu begreifen, was geschehen ist? Der gleiche Prozess, der beim Betrachter später aus der anderen Richtung abläuft.

Ich habe zwei kleine Söhne. Und habe mir das Bild des Flüchtlingsbuben Aylan, der vergangenes Jahr in Bodrum tot angespült wurde, unzählige Male angeschaut. Warum wohl? Aus Sensationsgier? Sicher nicht! Aus Wissensdurst? Auch nicht. Mir wurde beim Anblick des kleinen Toten körperlich übel und ich konnte mit Mühe die Tränen zurückhalten. Ich spürte grossen Kummer, Trauer, Mit-Leiden – aber auch Dankbarkeit. Dafür, dass meine Jungs heil und am Leben sind. Nennen Sie es abstossend, widerlich, solche Bilder zu betrachten – wir Menschen ticken eben so: Je unvorstellbarer etwas ist, desto mehr brauchen wir Bilder, um begreifen zu können. Jugendliche sagen «jetzt blicke ich’s» und meinen damit: «Ich hab’s verstanden.»

Wie oft haben Sie sich erschrocken, bedrückt, ungläubig Bilder der rauchenden Twin Towers in Manhattan angeschaut? Menschen springen aus den Fenstern in den Tod und wir schauen genau hin. Ist das etwas anderes als der «Fall Aylan» oder der Amateurfilm vom Zugunglück in Bad Aibling? Nur weil die Aufnahmen das Geschehen aus der Entfernung zeigen, weil man nicht so nah dran ist, nicht so viel sieht? Ich denke nicht. Der Mensch muss nicht unbedingt verstümmelte Leichen sehen, um Tragweite und ­Tragik von Ereignissen zu begreifen.

Die Frage, was wir zeigen und was nicht, was wir anschauen und was nicht, ist nicht grundsätzlich zu klären. Denn die Antwort ist abhängig davon, wer hinschaut und was gezeigt wird. Für direkt in ein Unglück Involvierte ist solches Bildmaterial nahezu unerträglich, es vertieft und verschlimmert das Leiden, egal, ob man Details von Menschen sieht oder nur eine verwackelte Aufnahme vom Unfallort. Doch für Menschen, die sich informieren wollen, und letztlich auch für Ermittlungsbehörden, die ein Unglück aufklären müssen, sind Bilder wichtig. Die einzigen Grenzen, die es hier gibt, sind die des guten Geschmacks und der Pietät.

Kai Gniffke­, Chef von «ARD-aktuell», entschied sich für die Ausstrahlung einer zehnsekündigen Videosequenz über den Unfall von Bad Aibling, zusammen­geschnitten aus sechs Minuten Material, ohne Ton. Verletzte sind nicht zu sehen. Trotzdem wurde Gniffke hart kritisiert. Unter anderem dafür, dass die Videosequenz geringen Informations­wert habe. Klar, wenn sie mehr Informationen transportieren würde, hätte Gniffke wahrscheinlich gegen die Regeln des guten Geschmacks und der ­Pietät verstossen …

Der Videoschnipsel ist wie eine kleine Zeugenaussage in Bildform und hat in Ermangelung eines Statements Berechtigung im Gesamtbericht. Die Filmaufnahmen, die die zerborstenen Züge und den Abtransport von Leichen zeigen, erschüttern allerdings weit mehr und bohren sich ins Gedächtnis. Letztlich ist es die Aufgabe von Journalisten, ihr Publikum ver­stehen zu machen. Das ist «ARD-aktuell» gelungen.

Er habe einen Kompromiss zwischen Informationsauftrag und Respekt vor den Opfern und Zuschauern finden müssen, rechtfertigte sich der angegriffene ARD-Mann Gniffke. Er hat richtig gehandelt und den schwierigen Spagat gut gemeistert, den jeder vollbringen muss, der über grauenvolle Ereignisse berichtet, bei denen Menschen gestorben sind.

Das Einzige, was Journalisten bei solchen Verrenkungen Flankenschutz und Orientierung gibt, ist ihre eigene Menschlichkeit.

Anne-Friederike Heinrich, Chefredaktorin
f.heinrich@werbewoche.ch
 

Weitere Artikel zum Thema