Zur Sache: Sommertheater

Nach 14-täglicher (Schweizer) Medienabstinenz entdeckte ich letzten Mittwoch bei meiner morgendlichen Zeitungslektüre – zuhause, aber immer noch in den Ferien – einen ungewohnten Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung.

Auf Seite 10 prangte ein rund viertelseitiger Artikel mit dem für die NZZ doch eher saftigen Titel «Nackt-Selfies aus dem Bundeshaus ». Um dem anrüchigen Titel die Schärfe wieder zu nehmen, verhiess dann der Untertitel aber dann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema: «Offene Fragen zum Verhaltenskodex von Angestellten.» Ich dachte mir noch, was soll dieses Thema in der NZZ, als bereits schon der erste Tweet auftauchte, den ich leider nur sinngemäss zitieren kann: Heute geht in vielen Medienhäusern viel Recherchezeit verloren. Recht hatte der Zwitscherer.

Was dann geschah, war zu erwarten. Blick und 20 Minuten nahmen das Thema sofort auf. Sicherlich innerlich zutiefst getroffen, dass sie das Thema verpassten – oder die Dame nicht auf dem Radar hatten. Das Problem war, dass es bis jetzt noch gar keine Bilder gab. Oder aber der NZZ-Journi hielt diese wohlweislich unter Verschluss, zutiefst erschrocken über den eigenen Mut, einen solchen Artikel geschrieben und damit ein solches Echo ausgelöst zu haben. Das Gezwitscher – mittlerweile mit dem Hashtag Selfiegate – wurde immer lauter. Zu den bekannten Journi-Twitterern gesellten sich zugewandte Orte und viele Leute, die scheinbar unendlich viel Zeit zu haben scheinen. Die Jagd nach den Bildern war dann auch in kurzer Zeit erfolgreich. Schwarmgeilheit nennt man das. Oder Mathematik, immerhin hatte die freizügige Bundeshaus-Angestellte gemäss investigativen NZZ-Recherchen mehr als 11'000 Nutzer, die ihr folgten, da ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgend jemand aus dem eigenen Twittererkreis die Dame kennt, doch ziemlich hoch.

Die einzelnen Artikel wurden laufend aktualisiert, Fotostrecken erstellt und erste Experten und Politiker zur Sache befragt. Viele nahmen es locker und mochten nicht die Moralkeule schwingen, einige machten sogar Witze darüber. Andere wiederum waren empört und sahen die Würde des Bundeshauses in Gefahr. Wiederum andere befassten sich mit den rechtlichen Konsequenzen. In den Online-Kommentarspalten dann sehr viele Kommentare, doch die Empörung hielt sich eher in Grenzen. Und so ging es dann die folgenden Tage weiter. Man berichtete über die Freistellung der Dame, die Empörung wurde so neu alimentiert und die gleichen Bilder wieder angeklickt. Sandro Brotz meinte: «Man würde nur zu gerne lesen, was @sarsarsar zum Sommertheäterchen um #Selfiegate meint. Leider oder zum Glück für ihn war sarsar halt in den Ferien.» Ein Beitrag zur Qualitätsdiskussion.

Pierre C. Meier, Chefredaktor

pc.meier@werbewoche.ch
 

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