Zur Sache: Innovationsfalle

Immer dann, wenn Unternehmen nicht mehr weiter­wissen, Kunden davonlaufen und der Absatz stagniert, wird der Ruf nach Innovationen laut.

Man sucht nach etwas Überraschendem, nie Dagewesenem, mischt alle Karten neu und versucht, bei Kunden und Konsumenten den Bedarf nach dem Ent­wickelten zu wecken. Eventuell ist die Konkurrenz mit der Entwicklung schon eine Nasenlänge voraus, sodass man entweder auf schon bereitetem Nährboden aussähen kann (= Glück) oder der ewige Zweite, Dritte oder Zehnte bleiben wird (= Pech).

Wenn ein Gerät bereits alle Funktionen besitzt, die der Nutzer benötigt, finden Produktentwickler ganz bestimmt noch einen weiteren Knopf, eine zusätzliche Funktion, die erst der neueste Schrei und schon ganz bald Standard ist. Ich erinnere mich noch gut daran, vor ein paar Jahren vergeblich nach einem Handy ohne Kamera gesucht zu haben. Ich brauchte diese Funktion nicht, hatte ich doch meine Nikon stets dabei. Wofür verpixelte Bildli machen, wenn ich sie ohnehin für nichts benutzen kann?

Heute ist die Handykamera Standard und auf Städtetrips werde ich wie ein Marsmännchen angeschaut, wenn ich das Objektiv meiner Nikon (die mich immer noch begleitet) auf ein Motiv richte, während um mich herum Smartphones und Tablets in die Höhe gestreckt werden. Ja klar, auch die Auflösung meines Handys ist inzwischen fast genauso gut wie die meiner Kamera. Ausserdem ist es kleiner, leichter, ich kann die Bilder sogleich verschicken, sharen … Trotzdem: Die alte Nikon hat Flair. Meine Marsmännchen, einmal geknipst, landen auf dem Datenfriedhof. Die Fotos, die ich mit der Kamera gemacht habe, schaue ich mir wieder an – wenigstens, während ich sie auf meinen Rechner lade.

In vielen Branchen zwingt die Hatz nach Innovativem, die Jagd nach dem aktuellsten Trend die Beteilig­ten in ein Hamsterrad, das immer schneller dreht. Irgendwann ist Dabeisein alles, Nichtdabeisein bringt einen ins Hintertreffen. Allerdings: Um jeden Preis dabei sein zu wollen, kann auch den ­Exitus bedeuten.

Etwa so muss es Volkswagen ergangen sein: Wenn ein Auto bereits fahren kann, schön aussieht, bequem und sicher ist, einen an ein bestimmtes Ziel bringt, relativ wenig Benzin verbraucht, ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis bietet – wo sind dann noch Stellschrauben, um den Absatz in die Höhe zu kurbeln? Umwelt! Das ist die Idee! Und da es nun einmal absurd ist, dass ein Diesel ein «sauberes Auto» ist – die Eier legende Wollmilchsau existiert nicht, auch wenn die Werbung das behauptet –, sah sich die Entwicklungsabteilung des Autobauers wohl genötigt, wenigstens rechnerisch ein Wunder zu ermöglichen. Schliesslich fordern Konsumenten heute nicht nur packende Werbung, sondern auch Beweise für die Werbeversprechen. Vorbei die Zeiten, in denen man nicht stutzig wurde, wenn jemand seine Hände in Spülmittel badet.

Die massive Kritik an Volkswagen ist berechtigt. Doch wir sollten uns auch an die eigene Nase fassen; nicht nur, um sie zuzuhalten. Allzu gern sind wir als Konsumenten naiv, wenn es uns ein gutes Gefühl gibt: «Ich fahre einen sauberen Diesel! Palmölproduktion sichert Arbeitsplätze. Wenn ich die in China produzierte Billigkleidung nicht kaufe, haben die Kinder der Näherinnen nichts zu essen.» Hmmmm.

Ich werde das Gefühl nicht los, dass die Automobillobby mithilft, auf Volkswagen einzudreschen, statt zu thematisieren, welche grundsätzlichen Probleme hinter diesem Betrugsfall stecken. Schliesslich lenkt ein prominenter Fehlbarer die Aufmerksamkeit von all denen ab, die auch noch mauscheln.

Ruf Lanz schickt aktuell als «sauberen Volks­wagen» ein altes VBZ-Tram ins Rennen. Keine Cobra. Denn das alte Bähnli hat Flair. Wo zwischen Althergebrachtem und Brandneuem man am besten den Fuss auf den Boden setzt, ist schwer zu entscheiden. Die beste Orientierung bei diesem Spagat bieten der eigene Bauch und die Zielgruppe. Die deutsche PR-Agentur Edelman hat gerade ihr aktuelles Trust-Barometer veröffentlicht. Von 33'000 Befragten in 27 Ländern gaben 57 Prozent an, dass die Geschwindigkeit zu hoch sei, mit der neue Geschäftsideen entwickelt und Produktwelten verändert würden. Auch die Technologielandschaft wird skeptisch beäugt: Für 51 Prozent der Befragten gehen Veränderungen zu schnell. Nur 21 Prozent bewerten Innovationszyklen als zu langsam. «Unternehmen stehen vor einem Balanceakt: Sie müssen innovativ sein, um ihre Zukunft abzusichern. Gleichzeitig laufen sie Gefahr, ihre Kunden zu verlieren, wenn sie Geschäftsideen, Produkte und Dienstleistungen zu schnell weiterentwickeln und nicht ausreichend erklären», sagt Susanne Marell, CEO von Edelman Deutschland.

Was können wir daraus lernen? Dass ein wenig Nikon, Dieselruss und Quietsch-Trams durchaus wohltun können. Wir brauchen dieses Flair. Und dass Neuentwicklungen nur dann sinnvoll sind, wenn sie uns effektiv zusätzlichen Nutzen und ein besseres Gefühl bringen oder unser Vertrauen in ein Produkt oder Unternehmen steigern. Innovation um der Innovation willen kann schnell zur Falle werden. Eine lohnende Innovation, ein wirklicher USP von Produkten wäre zum Beispiel, dass sie uns mehr Zeit für das verschaffen, was uns wichtig ist.

Wichtig ist mir an dieser Stelle, Sie an Pierre C. Meier zu erinnern. Morgen Samstag, den 3. Oktober, jährt sich erstmals Pierres Todestag. Unsere Erinnerung an ihn ist noch ganz frisch.

Anne-Friederike Heinrich, Chefredaktorin
f.heinrich@werbewoche.ch
 

Weitere Artikel zum Thema