Zur Sache: zweifelhafter Dialog

Jeder Journalist weiss, dass es nur gewisse Reizwörter braucht, damit die Kommentarspalten in den Onlineausgaben der Zeitungen förmlich explodieren. Solche Reizwörter sind unter anderem Blocher, Ausländerkriminalität, Raser, Sozialhilfe, Tierquäler, Europa. Aber auch Abzocker, Boni, Fussballrowdy und jugendliche Trinker generieren viele Kommentare. Einige Kommentare sind jeweils gut und wertvoll, andere eher grenzwertig. Sehr oft befassen sich nur gerade die ersten Kommentare mit dem eigentlichen Thema, dann gleitet die Diskussion in gegenseitige Beleidigungen ab. Die Kommentar-Trolle lassen grüssen.

Auf Twitter und Facebook passiert Ähnliches. Schon einige Politiker mussten feststellen, dass ihre emotionalen, sich unter der Gürtellinie bewegenden Tweets und Bemerkungen ihrer Karriere nicht gerade förderlich waren. Solche unpassenden Kommentare und Tweets sind für einige Leute der Beweis, dass man solche Äusserungen nicht ernst nehmen darf. Auch Michael Ringier versuchte das am Medienkongress mit Zitaten aus Kommentarspalten zu belegen.

Wie war es denn früher? In der Vor-Internet-Zeit konnte man Leserbriefe, die dem verantwortlichen Redaktor nicht passten oder die sich im Tone vergriffen, einfach in den Papierkorb schmeissen. Das war Zensur. Monologe waren Trumpf. Heute ist man liberal und lässt oft eine härtere Diskussion zu. Der Leser soll mitreden können. Man sucht den Dialog. So weit, so gut.

Das Flüchtlingsdrama von Lampedusa zeigt die Grenzen des Dialogs. Christof Moser schrieb in der Schweiz am Sonntag: «Zweimal hatte ich diese Woche Tränen in den Augen. Das erste Mal, als ich die TV-Bilder über die Flüchtlingstragödie vor Lampedusa sah: über 300 ertrunkene Flüchtlinge, darunter Schwangere und Kinder. Und das zweite Mal, als ich die Kommentare unter den Artikeln zur Tragödie las.»

Man kann ihm nur beipflichten, denn was da in den Kommentarspalten abging, war einfach nur widerlich. Da war es ein schwacher Trost, dass die rassistischen und menschenverachtenden Kommentare im Ausland zum Teil noch krasser waren. Ich für mich jedenfalls habe mir die Zensur kurz zurückgewünscht. Doch das wäre der falsche Weg. Im Rahmen der Diskussion über die Qualität der Medien hört man immer wieder die Meinung, dass Journalisten generell an ihren Lesern vorbeischreiben und dass sie, was die Bevölkerung bewegt, nicht ernst nehmen würden. Mag sein. Aber ich will die dumpfbackenen Lampedusa- Kommentar-Schreiber gar nicht ernst nehmen, sonst wird es mir schlecht. Eine Lösung für einen Dialog habe ich leider auch nicht. Wichtig wäre er.

Pierre C. Meier, Chefredaktor pc.meier@werbewoche.ch
 

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